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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 216<br />

soll; in den Dichtwerken werden Ehre und Unehre gewöhnlich direkt verteilt. Ist das nun aber<br />

ein Vorzug oder ein Nachteil – Manchmal das eine, manchmal das andere; meistens [458]<br />

jedoch ein Nachteil. Wir wollen einstweilen nicht davon sprechen, daß eine Folge dieser Gewohnheit<br />

eine Idealisierung nach der guten und nach der schlechten Seite oder, einfach gesagt,<br />

eine Übertreibung ist; denn wir haben uns noch nicht über die Bedeutung der Kunst geäußert,<br />

und es ist noch zu früh, zu entscheiden, ob diese Idealisierung ein Mangel oder ein Vorzug ist:<br />

sagen wir nur, daß die Folge einer solchen ständigen Anpassung der menschlichen Charaktere<br />

an die Bedeutung der Vorgänge in der Dichtung Monotonie ist, die Personen und sogar die<br />

Vorgänge selber werden einförmig; denn durch Verschiedenheit in den Charakteren der handelnden<br />

Personen würden auch einander im Wesen ähnliche Vorgänge verschiedene Nuancen<br />

annehmen, wie das bei dem ewig mannigfaltigen, ewig neuen Leben der Fall ist, während man<br />

in den Dichtwerken sehr häufig Wiederholungen zu lesen bekommt. 60 Heutzutage pflegt man<br />

sich über Ausschmückungen, die nicht dem Wesen des Gegenstandes entspringen und zur Erreichung<br />

des Hauptzieles nicht notwendig sind, lustig zu machen; doch bis heute noch haben<br />

ein geglückter Ausdruck, eine glänzende Metapher, haben die tausenderlei Verzierungen, die<br />

erdacht werden, um dem Werk äußeren Glanz zu geben, noch außerordentlich großen Einfluß<br />

auf die Beurteilung von Dichtwerken. 61 Was Ausschmückungen, äußere Pracht, Verzwicktheit<br />

usw. anlangt, halten wir es stets für möglich, in der erdachten Erzählung die Wirklichkeit zu<br />

übertreffen. Aber man braucht nur auf diesen angeblichen Vorzug der Novellen und Dramen<br />

hinzuweisen, um diese in den Augen von Leuten mit Geschmack herabzusetzen und aus dem<br />

Gebiet der „Kunst“ in das der „Künstelei“ zu verweisen.<br />

Unsere Untersuchung hat gezeigt, daß das Kunstwerk bestenfalls in zwei, drei unwichtigen<br />

Punkten den Vorrang vor der Wirklichkeit verdient und hinsichtlich seiner wesentlichen Qualitäten<br />

weit hinter ihr zurückbleiben muß. Man kann dieser Untersuchung den Vorwurf machen,<br />

daß sie sich auf allgemeinste Gesichtspunkte beschränkt hat, nicht auf Einzelheiten<br />

eingegangen ist, sich nicht auf Beispiele gestützt hat. In der Tat muß ihre Kürze als Mangel<br />

erscheinen, wenn wir daran denken, wie tief verwurzelt die Meinung [459] ist, die Schönheit<br />

der Kunstwerke stände höher als die Schönheit der wirklichen Dinge, Begebenheiten und<br />

Menschen; aber wenn man sieht, auf was für schwachen Füßen diese Meinung steht, wenn<br />

man daran denkt, wie die Leute, die sie vertreten, sich selbst auf Schritt und Tritt widersprechen<br />

62 , dann sollte es, scheint’s, genügen, die Darstellung der Meinung von der Überlegenheit<br />

der Kunst über die Wirklichkeit nur mit den Worten abzuschließen: das ist; nicht richtig,<br />

jeder fühlt, daß die Schönheit des wirklichen Lebens die Schönheit der Werke der „schöpferischen“<br />

Phantasie übertrifft. Wenn dem so ist – worauf beruht oder, besser gesagt, welchen<br />

60 Hinter „zu lesen bekommt“ heißt es im Manuskript: „In ihnen geschieht fast stets fast alles auf die gleiche<br />

Manier: man verliebt sich, ist eifersüchtig, wird untreu, zweifelt, wundert sich, gerät in Verzweiflung, alles auf<br />

die gleiche Weise, nach der allgemeinen Regel, denn es verliebt sich stets ein feuriger junger Mann, eifersüchtig<br />

ist ein argwöhnischer Mensch, untreu wird eine Frau mit wankelmütigem Herzen usw., ein und derselbe Charakter,<br />

der am besten zu den zugeschriebenen Handlungen paßt, tut stets ein und dasselbe.“<br />

61 Weiter ist im Manuskript gestrichen: „Wieviel Leute gibt es doch, die, wenn sie ihr Urteil über einen Roman<br />

oder eine Erzählung abgeben, vor allem oder in der Hauptsache davon reden, ob die Sprache gut ist, und eigentlich<br />

auf sonst nichts weiter achten.“<br />

62 Im Manuskript heißt es weiter: „wenn sie ständig daran erinnern, daß es ‚in der Natur wahre Schönheit gibt‘ –<br />

wenn man daran denkt“. Hinter den Worten „dann sollte es“ ist im Manuskript folgendes ausgestrichen: „fast<br />

nicht der Mühe wert sein, eine solche unbegründete Meinung, die bei der ersten Andeutung zusammenbricht,<br />

überhaupt zu widerlegen“. Am Ende des Satzes ist hinter den Worten „Phantasie übertrifft“ im Manuskript gestrichen:<br />

„ – und dann wird unsere allzu kurze und allzu allgemeine Übersicht zu lang und zu ausführlich erscheinen“.<br />

Hierauf folgte im Manuskript ein später gestrichener Satz: „Wir sind entschieden der Meinung, daß<br />

die Schöpfungen der Wirklichkeit und des Lebens, was die Schönheit des Ganzen, die Vollendung der Details,<br />

mit einem Wort alles das betrifft, was die Grundlage für die Beurteilung des Wertes ästhetischer Werke ausmacht,<br />

bedeutend höher stehen als die Werke menschlicher Kunst.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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