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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 215<br />
jede Begebenheit, die das Interesse eines denkenden Menschen verdient; und solcher gibt es<br />
sehr viele.<br />
Nach alledem muß man wohl sagen, daß es in der Wirklichkeit viele Begebenheiten gibt, die 58<br />
man nur kennen, verstehen und zu erzählen fähig sein muß, und sie werden sich im reinen Prosabericht<br />
des Historikers, des Memoirenschreibers oder Anekdotensammlers nur durch geringer<br />
Umfang, geringere Entwicklung der Szenen, Beschreibungen und ähnlicher Einzelheiten<br />
von „Dichtwerken“ unterscheiden. Und darin finden wir den wesentlichen Unterschied zwischen<br />
den Dichtwerken und der genauen prosaischen Wiedererzählung wirklicher Begebenheiten.<br />
Eine größere Fülle von Einzelheiten oder das, was man in schlechten Werken „rhetorische<br />
Weitschweifigkeit“ nennt – darauf läuft eigentlich die ganze Überlegenheit der Dichtung über<br />
den exakten Bericht hinaus. Wir sind so gut wie jedermann bereit, die Rhetorik zu verlachen;<br />
aber da wir alle Bedürfnisse des menschlichen Herzens als berechtigt anerkennen, sobald wir<br />
Allgemeingültigkeit bei ihnen feststellen, erkennen wir die Wichtigkeit dieser dichterischen<br />
Weitschweifigkeit an, weil wir in der Dichtung stets und überall einen Hang zu ihnen sehen: im<br />
Leben gibt es stets solche Einzelheiten, die das Wesen der Sache nicht braucht, die aber für ihre<br />
wirkliche Entwicklung nötig sind; sie müssen auch in der Dichtung da sein. Der Unterschied ist<br />
nur der, daß die Einzelheiten in der Wirklichkeit niemals ein bloßes Hinziehen der Sache sein<br />
können, während sie in Dichtwerken tatsächlich sehr oft den Beigeschmack der Rhetorik des<br />
mechanischen Hinziehens der Erzählung haben. [457] Weshalb wird denn Shakespeare so gepriesen,<br />
wenn nicht deshalb, weil er sich in den entscheidenden, den besten Szenen von dieser<br />
Weitschweifigkeit freihält Aber wie viele von ihnen finden sich selbst bei ihm, bei Goethe und<br />
bei Schiller! Uns scheint es (vielleicht ist das Voreingenommenheit für das Eigne, Heimische),<br />
daß die russische Dichtung den Keim der Abneigung gegen das Hinziehen des Sujets durch<br />
mechanisch zusammengetragene Einzelheiten in sich trägt. Die Novellen und Erzählungen<br />
Puschkins, Lermontows, Gogols haben eine gemeinsame Eigenschaft: Kürze und raschen Ablauf<br />
der Erzählung. Im allgemeinen, in bezug auf den Stoff, das Typische und die Vollständigkeit<br />
der Zeichnung der Personen, bleiben also die Dichtwerke weit hinter der Wirklichkeit zurück;<br />
es gibt jedoch zwei Momente, in denen sie die Wirklichkeit übertreffen können: die Ausschmückung<br />
des Vorgangs durch wirkungsvolles Beiwerk und die Abstimmung des Charakters<br />
der Personen auf die Vorgänge, an denen sie teilnehmen.<br />
Wir haben gesagt, daß die Malerei häufiger als die Wirklichkeit eine Gruppe in eine Umgebung<br />
hineinstellt, die dem wesentlichen Charakter der Szene entspricht; ganz ebenso macht auch die<br />
Dichtung häufiger als die Wirklichkeit solche Menschen zu treibenden Kräften und Teilnehmern<br />
der Vorgänge, deren wesentlicher Charakter völlig dem Geist dieser Vorgänge entspricht.<br />
In der Wirklichkeit sind sehr häufig Menschen von unbedeutendem Charakter die treibenden<br />
Kräfte tragischer, dramatischer usw. Vorgänge; ein nichtssagender Schlingel, ein eigentlich gar<br />
nicht einmal schlechter Mensch, kann viele schreckliche Dinge anrichten; ein Mensch, der absolut<br />
nicht als schlecht zu bezeichnen ist, kann viele Menschen unglücklich machen und viel<br />
mehr Unheil stiften als Jago oder Mephisto. 59 In Dichtwerken dagegen werden besonders<br />
schlechte Taten gewöhnlich von sehr schlechten Menschen begangen; die guten Taten tun besonders<br />
gute Menschen. Im Leben weiß man häufig nicht, wen man anklagen, wen man loben<br />
58 Hier folgt im Manuskript die Einschaltung: „die Bezeichnung Drama, Roman usw. nicht weniger verdienen<br />
als die von den größten Schriftstellern geschriebenen Dramen, Romane usw. und die“.<br />
59 Das Ende des Satzes nach den Worten „schreckliche Dinge anrichten“ lautete im Manuskript ursprünglich<br />
folgendermaßen: „irgendeine Dame, die nicht einmal ein ausgesprochenes Klatschweib zu sein braucht, kann<br />
durch ein paar unbedachte, ohne jede besondere Absicht ausgesprochene Worte das Glück vieler Menschen<br />
einzig dadurch zerstören, daß sie, gleich der Mehrzahl der Menschen, ihre Zunge nicht im Zaume zu halten<br />
versteht“. Dieser Text ist später gestrichen und verändert. Hinter den Worten „Jago oder Mephisto“ heißt es im<br />
Manuskript: „Menschen, die nicht besonders böse – und auch nicht besonders gut – sind, tun Dinge, die man<br />
‚Bösewichten‘ oder ‚Helden‘ zuschreiben kann. So geht es gewöhnlich im Leben zu.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013