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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 214 und von den Personen wissen, die ihm nahestanden, um so mehr Porträts lebender Menschen entdecken wir bei ihm. Man wird wohl zugeben müssen, daß die von Dichtern dargestellten Gestalten viel weniger „Geschaffenes“ und viel mehr nach der Wirklichkeit Kopiertes enthalten und stets enthalten haben, als man gewöhnlich annimmt; man wird wohl zu der Überzeugung kommen müssen, daß der Dichter in bezug auf seine Gestalten fast stets nur Historiker oder Memoirenschreiber ist. Es versteht sich von selbst, daß wir mit alledem nicht sagen wollen, Goethe habe jedes von Mephisto gesprochene Wort buchstäblich von Merck gehört. 57 Nicht nur ein genialer Dichter, auch der phantasieärmste Erzähler ist imstande, zu einem Satz einen anderen gleicher Art hinzuzudichten, Einleitungen und Übergänge hinzuzufügen. Viel mehr „selbständig Erfundenes“ oder „Hinzugedachtes“ – wir erlauben uns, den üblichen, allzu stolzen Ausdruck „Geschaffenes“ durch diese Ausdrücke zu ersetzen – gibt es gewöhnlich in den vom Dichter dargestellten Begebenheiten in der Intrige, in der Schürzung des Knotens und in seiner Lösung usw., obgleich sehr leicht nachzuweisen ist, daß dem Dichter als Sujets für seine Romane, [455] Novellen usw. gewöhnlich tatsächlich vorgefallene Ereignisse oder Anekdoten, verschiedenen Erzählungen u. a. m. dienen (nehmen wir beispielsweise alle Prosaerzählungen Puschkins: „Die Hauptmannstochter“ – eine Anekdote; „Dubrowski“ – eine Anekdote; „Pique-Dame“ – eine Anekdote; „Der Schuß“ – eine Anekdote usw.). Aber die allgemeine Kontur des Sujets an sich verleiht dem Roman oder der Novelle noch keinen hohen dichterischen Wert – man muß verstehen, sich des Stoffes zu bedienen; deshalb wenden wir, ohne die „Selbständigkeit“ des Sujets weiter zu untersuchen, unsere Aufmerksamkeit der Frage zu, ob die Dichtwerke in bezug auf das vollentwickelt in ihnen dargestellte Sujet die wirklichen Ereignisse an „Poesie“ übertreffen oder hinter ihnen zurückbleiben. Um zu einem endgültigen Schluß zu kommen, stellen wir hilfsweise einige Fragen, von denen ein großer Teil sich von selbst beantwortet: 1. Gibt es in der Wirklichkeit poetische Ereignisse, spielen sich in der Wirklichkeit Dramen, Romane, Komödien, Tragödien, Possen ab – Jeden Augenblick. 2. Sind diese Ereignisse in ihrer Entwicklung und Lösung wahrhaft poetisch Sind sie in der Wirklichkeit vollendet künstlerisch und abgerundet – Je nachdem; häufig sind sie es nicht, aber sehr häufig sind sie es. Es gibt sehr viele Begebenheiten, an denen eine streng dichterische Betrachtungsweise in künstlerischer Hinsicht keinerlei Mängel finden kann. Dieser Punkt wird beantwortet durch die Lektüre des ersten besten gutgeschriebenen Geschichtsbuches, durch den ersten Abend, den man in Unterhaltung mit einem Menschen verbringt, der in seinem Leben viel gesehen hat; er wird schließlich beantwortet durch eine beliebige Nummer irgendeiner französischen oder englischen Gerichtszeitung, die man in die Hand nimmt. 3. Gibt es unter diesen vollendet poetischen Begebenheiten solche, die ohne jegliche Änderung unter der Überschrift „Drama“, „Tragödie“, „Roman“ usw. herausgegeben werden könnten – Sehr viele; allerdings sind viele wirkliche Begebenheiten unwahrscheinlich, da sie auf zu seltenen, ausschließlichen Situationen oder Verkettungen von Umständen beruhen und deshalb in ihrer wahren Gestalt wie Märchen oder an den [456] Haaren herbeigezogene Erfindungen wirken (hieraus kann man sehen, daß das wirkliche Leben häufig zu dramatisch für ein Drama, zu poetisch für eine Dichtung ist); aber es gibt sehr viele Begebenheiten, an denen bei all ihrer Merkwürdigkeit nichts Exzentrisches, nichts Unwahrscheinliches ist, die ganze Verkettung der Ereignisse, der ganze Ablauf und die Lösung dessen, was man in der Dichtung die Intrige nennt, sind einfach. 4. Haben wirkliche Begebenheiten eine „allgemeine“ Seite, die zum Dichtwerk notwendig ist Selbstverständlich – sie hat 57 Für die dritte Auflage ist vor „Mephisto“ gestrichen: „Margarete und...“ und vor „Merck“ die Worte: „Gretchen und...“ Goethes Bekanntschaft mit J. H. Merck fällt in das Jahr 1771. Es war das eine seiner glühendsten Freundschaften. Mephistos Gestalt trägt viele Züge von Merck („Merck und ich“, fuhr Goethe fort, „waren immer miteinander wie Faust und Mephistopheles.“ – Eckermann, Gespräche mit Goethe, II. Teil, Gespräch vom 27. März 1831). OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 215 jede Begebenheit, die das Interesse eines denkenden Menschen verdient; und solcher gibt es sehr viele. Nach alledem muß man wohl sagen, daß es in der Wirklichkeit viele Begebenheiten gibt, die 58 man nur kennen, verstehen und zu erzählen fähig sein muß, und sie werden sich im reinen Prosabericht des Historikers, des Memoirenschreibers oder Anekdotensammlers nur durch geringer Umfang, geringere Entwicklung der Szenen, Beschreibungen und ähnlicher Einzelheiten von „Dichtwerken“ unterscheiden. Und darin finden wir den wesentlichen Unterschied zwischen den Dichtwerken und der genauen prosaischen Wiedererzählung wirklicher Begebenheiten. Eine größere Fülle von Einzelheiten oder das, was man in schlechten Werken „rhetorische Weitschweifigkeit“ nennt – darauf läuft eigentlich die ganze Überlegenheit der Dichtung über den exakten Bericht hinaus. Wir sind so gut wie jedermann bereit, die Rhetorik zu verlachen; aber da wir alle Bedürfnisse des menschlichen Herzens als berechtigt anerkennen, sobald wir Allgemeingültigkeit bei ihnen feststellen, erkennen wir die Wichtigkeit dieser dichterischen Weitschweifigkeit an, weil wir in der Dichtung stets und überall einen Hang zu ihnen sehen: im Leben gibt es stets solche Einzelheiten, die das Wesen der Sache nicht braucht, die aber für ihre wirkliche Entwicklung nötig sind; sie müssen auch in der Dichtung da sein. Der Unterschied ist nur der, daß die Einzelheiten in der Wirklichkeit niemals ein bloßes Hinziehen der Sache sein können, während sie in Dichtwerken tatsächlich sehr oft den Beigeschmack der Rhetorik des mechanischen Hinziehens der Erzählung haben. [457] Weshalb wird denn Shakespeare so gepriesen, wenn nicht deshalb, weil er sich in den entscheidenden, den besten Szenen von dieser Weitschweifigkeit freihält Aber wie viele von ihnen finden sich selbst bei ihm, bei Goethe und bei Schiller! Uns scheint es (vielleicht ist das Voreingenommenheit für das Eigne, Heimische), daß die russische Dichtung den Keim der Abneigung gegen das Hinziehen des Sujets durch mechanisch zusammengetragene Einzelheiten in sich trägt. Die Novellen und Erzählungen Puschkins, Lermontows, Gogols haben eine gemeinsame Eigenschaft: Kürze und raschen Ablauf der Erzählung. Im allgemeinen, in bezug auf den Stoff, das Typische und die Vollständigkeit der Zeichnung der Personen, bleiben also die Dichtwerke weit hinter der Wirklichkeit zurück; es gibt jedoch zwei Momente, in denen sie die Wirklichkeit übertreffen können: die Ausschmückung des Vorgangs durch wirkungsvolles Beiwerk und die Abstimmung des Charakters der Personen auf die Vorgänge, an denen sie teilnehmen. Wir haben gesagt, daß die Malerei häufiger als die Wirklichkeit eine Gruppe in eine Umgebung hineinstellt, die dem wesentlichen Charakter der Szene entspricht; ganz ebenso macht auch die Dichtung häufiger als die Wirklichkeit solche Menschen zu treibenden Kräften und Teilnehmern der Vorgänge, deren wesentlicher Charakter völlig dem Geist dieser Vorgänge entspricht. In der Wirklichkeit sind sehr häufig Menschen von unbedeutendem Charakter die treibenden Kräfte tragischer, dramatischer usw. Vorgänge; ein nichtssagender Schlingel, ein eigentlich gar nicht einmal schlechter Mensch, kann viele schreckliche Dinge anrichten; ein Mensch, der absolut nicht als schlecht zu bezeichnen ist, kann viele Menschen unglücklich machen und viel mehr Unheil stiften als Jago oder Mephisto. 59 In Dichtwerken dagegen werden besonders schlechte Taten gewöhnlich von sehr schlechten Menschen begangen; die guten Taten tun besonders gute Menschen. Im Leben weiß man häufig nicht, wen man anklagen, wen man loben 58 Hier folgt im Manuskript die Einschaltung: „die Bezeichnung Drama, Roman usw. nicht weniger verdienen als die von den größten Schriftstellern geschriebenen Dramen, Romane usw. und die“. 59 Das Ende des Satzes nach den Worten „schreckliche Dinge anrichten“ lautete im Manuskript ursprünglich folgendermaßen: „irgendeine Dame, die nicht einmal ein ausgesprochenes Klatschweib zu sein braucht, kann durch ein paar unbedachte, ohne jede besondere Absicht ausgesprochene Worte das Glück vieler Menschen einzig dadurch zerstören, daß sie, gleich der Mehrzahl der Menschen, ihre Zunge nicht im Zaume zu halten versteht“. Dieser Text ist später gestrichen und verändert. Hinter den Worten „Jago oder Mephisto“ heißt es im Manuskript: „Menschen, die nicht besonders böse – und auch nicht besonders gut – sind, tun Dinge, die man ‚Bösewichten‘ oder ‚Helden‘ zuschreiben kann. So geht es gewöhnlich im Leben zu.“ OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 214<br />

und von den Personen wissen, die ihm nahestanden, um so mehr Porträts lebender Menschen<br />

entdecken wir bei ihm. Man wird wohl zugeben müssen, daß die von Dichtern dargestellten<br />

Gestalten viel weniger „Geschaffenes“ und viel mehr nach der Wirklichkeit Kopiertes enthalten<br />

und stets enthalten haben, als man gewöhnlich annimmt; man wird wohl zu der Überzeugung<br />

kommen müssen, daß der Dichter in bezug auf seine Gestalten fast stets nur Historiker<br />

oder Memoirenschreiber ist. Es versteht sich von selbst, daß wir mit alledem nicht sagen wollen,<br />

Goethe habe jedes von Mephisto gesprochene Wort buchstäblich von Merck gehört. 57<br />

Nicht nur ein genialer Dichter, auch der phantasieärmste Erzähler ist imstande, zu einem Satz<br />

einen anderen gleicher Art hinzuzudichten, Einleitungen und Übergänge hinzuzufügen.<br />

Viel mehr „selbständig Erfundenes“ oder „Hinzugedachtes“ – wir erlauben uns, den üblichen,<br />

allzu stolzen Ausdruck „Geschaffenes“ durch diese Ausdrücke zu ersetzen – gibt es gewöhnlich<br />

in den vom Dichter dargestellten Begebenheiten in der Intrige, in der Schürzung des<br />

Knotens und in seiner Lösung usw., obgleich sehr leicht nachzuweisen ist, daß dem Dichter<br />

als Sujets für seine Romane, [455] Novellen usw. gewöhnlich tatsächlich vorgefallene Ereignisse<br />

oder Anekdoten, verschiedenen Erzählungen u. a. m. dienen (nehmen wir beispielsweise<br />

alle Prosaerzählungen Puschkins: „Die Hauptmannstochter“ – eine Anekdote;<br />

„Dubrowski“ – eine Anekdote; „Pique-Dame“ – eine Anekdote; „Der Schuß“ – eine Anekdote<br />

usw.). Aber die allgemeine Kontur des Sujets an sich verleiht dem Roman oder der Novelle<br />

noch keinen hohen dichterischen Wert – man muß verstehen, sich des Stoffes zu bedienen;<br />

deshalb wenden wir, ohne die „Selbständigkeit“ des Sujets weiter zu untersuchen, unsere<br />

Aufmerksamkeit der Frage zu, ob die Dichtwerke in bezug auf das vollentwickelt in ihnen<br />

dargestellte Sujet die wirklichen Ereignisse an „Poesie“ übertreffen oder hinter ihnen zurückbleiben.<br />

Um zu einem endgültigen Schluß zu kommen, stellen wir hilfsweise einige Fragen,<br />

von denen ein großer Teil sich von selbst beantwortet: 1. Gibt es in der Wirklichkeit poetische<br />

Ereignisse, spielen sich in der Wirklichkeit Dramen, Romane, Komödien, Tragödien,<br />

Possen ab – Jeden Augenblick. 2. Sind diese Ereignisse in ihrer Entwicklung und Lösung<br />

wahrhaft poetisch Sind sie in der Wirklichkeit vollendet künstlerisch und abgerundet – Je<br />

nachdem; häufig sind sie es nicht, aber sehr häufig sind sie es. Es gibt sehr viele Begebenheiten,<br />

an denen eine streng dichterische Betrachtungsweise in künstlerischer Hinsicht keinerlei<br />

Mängel finden kann. Dieser Punkt wird beantwortet durch die Lektüre des ersten besten gutgeschriebenen<br />

Geschichtsbuches, durch den ersten Abend, den man in Unterhaltung mit einem<br />

Menschen verbringt, der in seinem Leben viel gesehen hat; er wird schließlich beantwortet<br />

durch eine beliebige Nummer irgendeiner französischen oder englischen Gerichtszeitung,<br />

die man in die Hand nimmt. 3. Gibt es unter diesen vollendet poetischen Begebenheiten solche,<br />

die ohne jegliche Änderung unter der Überschrift „Drama“, „Tragödie“, „Roman“ usw.<br />

herausgegeben werden könnten – Sehr viele; allerdings sind viele wirkliche Begebenheiten<br />

unwahrscheinlich, da sie auf zu seltenen, ausschließlichen Situationen oder Verkettungen von<br />

Umständen beruhen und deshalb in ihrer wahren Gestalt wie Märchen oder an den [456] Haaren<br />

herbeigezogene Erfindungen wirken (hieraus kann man sehen, daß das wirkliche Leben<br />

häufig zu dramatisch für ein Drama, zu poetisch für eine Dichtung ist); aber es gibt sehr viele<br />

Begebenheiten, an denen bei all ihrer Merkwürdigkeit nichts Exzentrisches, nichts Unwahrscheinliches<br />

ist, die ganze Verkettung der Ereignisse, der ganze Ablauf und die Lösung dessen,<br />

was man in der Dichtung die Intrige nennt, sind einfach. 4. Haben wirkliche Begebenheiten<br />

eine „allgemeine“ Seite, die zum Dichtwerk notwendig ist Selbstverständlich – sie hat<br />

57 Für die dritte Auflage ist vor „Mephisto“ gestrichen: „Margarete und...“ und vor „Merck“ die Worte: „Gretchen<br />

und...“<br />

Goethes Bekanntschaft mit J. H. Merck fällt in das Jahr 1771. Es war das eine seiner glühendsten Freundschaften.<br />

Mephistos Gestalt trägt viele Züge von Merck („Merck und ich“, fuhr Goethe fort, „waren immer miteinander wie<br />

Faust und Mephistopheles.“ – Eckermann, Gespräche mit Goethe, II. Teil, Gespräch vom 27. März 1831).<br />

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