15.01.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 213<br />

daherreden, mit Großmüttern, die nichts anderes tun, als ihre Enkel liebkosen usw. 55 Aber<br />

meistens wird das Rezept nicht ganz befolgt: wenn der Dichter seinen Charakter „schafft“,<br />

schwebt seiner Phantasie gewöhnlich die Gestalt einer wirklichen Person vor; sie „reproduziert“<br />

er zuweilen bewußt, zuweilen unbewußt in seiner typischen Person. Zum Beweis erinnern<br />

wir an die zahllosen Werke, in denen die Hauptperson der Handlung ein mehr oder weniger<br />

getreues Porträt des Autors selbst ist (zum Beispiel Faust, Don Carlos und Marquis Posa,<br />

die Helden Byrons, die Helden und Heldinnen von George Sand, Lenski, Onegin,<br />

Petschorin); wir erinnern ferner an die sehr häufig gegen Romanschriftsteller [453] erhobene<br />

Beschuldigung, daß sie „in ihren Romanen Porträts ihrer Bekannten zeichnen“; diese Beschuldigungen<br />

werden gewöhnlich mit Spott und Empörung zurückgewiesen; sie sind jedoch<br />

in den meisten Fällen nur übertrieben und unrichtig ausgedrückt, in ihrem Kern aber gerechtfertigt.<br />

Es ist einerseits der Anstand, andererseits das gewöhnliche Streben des Menschen<br />

nach Selbständigkeit, nach „Schaffen und nicht Kopieren“, was den Dichter veranlaßt, Charaktere,<br />

wenn er sie nach Menschen zeichnet, die ihm im Leben begegnet sind, bis zu einem<br />

gewissen Grade ungenau darzustellen; außerdem handelt die nach einem wirklichen Menschen<br />

gezeichnete Person im Roman gewöhnlich in einem Milieu, das völlig anders ist als<br />

seine Umgebung in der Wirklichkeit, und dadurch verliert sich die äußere Ähnlichkeit. Aber<br />

alle diese Umwandlungen ändern nichts daran, daß der Charakter im wesentlichen kopiert<br />

bleibt und nicht geschaffen ist, Porträt ist und nicht Original. Hiergegen kann man sagen: es<br />

ist richtig, daß als Urbild für eine dichterische Gestalt sehr oft eine wirkliche Person dient;<br />

aber der Dichter „hebt sie zu allgemeiner Bedeutung empor“ – das Emporheben ist gewöhnlich<br />

gar nicht nötig, weil auch das Original schon in seiner Individualität allgemeine Bedeutung<br />

hat; man muß nur – und darin besteht eine der Qualitäten des dichterischen Genies – das<br />

Wesen des Charakters im wirklichen Menschen erkennen, ihn mit durchdringenden Augen zu<br />

betrachten fähig sein; außerdem muß man verstehen oder fühlen, wie dieser Mensch unter<br />

den Umständen, in die ihn der Dichter versetzt, handeln und sprechen würde – eine andere<br />

Seite des dichterischen Genies; drittens gehört dazu auch die Fähigkeit, ihn so darzustellen,<br />

so wiederzugeben, wie der Dichter ihn versteht – vielleicht die charakteristischste Eigenschaft<br />

des dichterischen Genies. Verstehen, fähig sein, das Verstandene recht zu erfassen<br />

oder mit dem Instinkt zu erfühlen und es wiederzugeben – das ist die Aufgabe des Dichters<br />

bei der Darstellung der meisten von ihm dargestellten Gestalten. Die Frage, was unter „Emporheben<br />

zu idealer Bedeutung“, „Poetisierung der Prosa und der Unebenheiten des Lebens“<br />

zu verstehen ist, wird [454] uns weiten unten noch begegnen. Wir zweifeln nicht im geringsten<br />

daran, daß es in den Werken der Dichtung sehr viele Gestalten gibt, die man nicht als<br />

Porträts bezeichnen kann, die vielmehr vom Dichter „geschaffen“ sind. Aber das kommt<br />

durchaus nicht daher, daß sich in der Wirklichkeit keine würdigen Modelle gefunden hätten,<br />

sondern hat ganz andere Gründe und geschieht meist einfach aus Vergeßlichkeit oder aus<br />

mangelnder Kenntnis: wenn dem Dichter die lebendigen Einzelheiten aus dem Gedächtnis<br />

entschwunden sind und nur ein allgemeiner, abstrakter Begriff von dem Charakter geblieben<br />

ist, oder wenn der Dichter von der typischen Person viel weniger weiß, als nötig wäre, um<br />

eine lebendige Person aus ihr zu machen, so muß er notgedrungen selbst die allgemeine Form<br />

ergänzen, die Konturen abschattieren. Solche erfundenen Gestalten stellen sich uns jedoch<br />

fast niemals als lebendige Charaktere dar. 56 Je mehr wir überhaupt vom Leben eines Dichters<br />

55 Weiter heißt es im Manuskript: „und es gibt viele solcher ‚typischen Personen‘, die man schon lange als wandelnde<br />

Puppen mit der Aufschrift ‚Held; Bösewicht; Einfaltspinsel; Feigling usw.‘ auf der Stirn bezeichnet“.<br />

56 Weiter heißt es im Manuskript: „Unsere gedrängte Betrachtung darüber, wie der Dichter typische Gestalten<br />

‚schafft‘, ist zu allgemein, zu kurz und daher natürlich unvollständig; wenn wir unsere Auffassung entwickeln<br />

und beweisen wollten, müßten wir eine ganz umfangreiche Monographie schreiben; aber wer nicht durch die<br />

Phrasen vom ‚Schaffen von Typen‘ voreingenommen ist, der braucht wohl erst gar keine ausführliche Entwicklung<br />

so naheliegender Gedanken.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!