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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 212<br />
menen Gegensätzlichkeit zwischen der allgemeinen Bedeutung eines Wesens und seiner lebendigen<br />
Individualität, auf der Annahme, das „Allgemeine verliere, wenn es sich individualisiert,<br />
seine Allgemeinheit“ in der Wirklichkeit und „werde nur durch die Kunst, die das Individuum<br />
seiner Individualität entkleidet, wieder zu ihr erhoben“. Ohne uns auf metaphysische<br />
Überlegungen darüber einzulassen, wie sich das Allgemeine tatsächlich zum Besonderen<br />
verhält (wobei wir zu dem Schluß kommen müßten, daß das Allgemeine für den Menschen<br />
nur ein blasser, lebloser Extrakt aus dem Individuellen ist, daß sie sich deshalb ebenso<br />
[451] zueinander verhalten wie Wort und Realität), sagen wir nur, daß tatsächlich die individuellen<br />
Einzelheiten die allgemeine Bedeutung des Gegenstandes durchaus nicht beeinträchtigen,<br />
sondern im Gegenteil seine allgemeine Bedeutung beleben und vervollständigen; daß<br />
jedenfalls die Dichtung die hohe Überlegenheit des Individuellen durch ihr Streben nach lebendiger<br />
Individualisierung ihrer Gestalten anerkennt; daß sie dabei durchaus keine Individualität<br />
erreichen, sondern sich ihr nur etwas annähern kann, und daß der Grad dieser Annäherung<br />
der Maßstab für den Wert der dichterischen Gestalt ist. Also: sie ist bestrebt, jedoch<br />
nie imstande, das zu erreichen, was in den typischen Personen des wirklichen Lebens stets<br />
vorhanden ist – es ist klar, daß die Gestalten der Dichtung im Vergleich mit den ihnen entsprechenden<br />
Gestalten der Wirklichkeit schwach, unvollständig, unbestimmt sind. „Kommen<br />
aber in der Wirklichkeit wahrhaft typische Personen vor“ – Es genügt, eine solche Frage<br />
aufzuwerfen, um erst gar keine Antwort zu erwarten wie auf die Fragen, ob es im Leben<br />
wirklich gute und schlechte Menschen, Verschwender und Geizhälse usw. gibt, ob wirklich<br />
das Eis kalt, das Brot sehr nahrhaft ist u. dgl. Es gibt Leute, denen man alles weisen und beweisen<br />
muß. Aber sie sind mit allgemeinen Beweisen in einer allgemeinen Abhandlung nicht<br />
zu überzeugen; auf sie kann man nur einzeln einwirken, für sie sind nur Spezialbeispiele aus<br />
ihrem Bekanntenkreise überzeugend, in dem sich, so eng er auch sein mag, stets einige wahrhaft<br />
typische Personen finden; der Hinweis auf wahrhaft typische Personen der Geschichte<br />
dürfte kaum helfen: es gibt Menschen, die zu sagen bereit sind: „Die historischen Persönlichkeiten<br />
sind durch die Legende, durch die Bewunderung der Zeitgenossen, durch das Genie<br />
der Geschichtsforscher oder durch ihre Ausnahmestellung poetisiert.“<br />
Woher die Meinung stammt, typische Charaktere würden in der Dichtung viel reiner und besser<br />
dargestellt, als sie im wirklichen Leben vorkommen, wollen wir später untersuchen; wenden<br />
wir unsere Aufmerksamkeit jetzt dem Prozeß zu, mit dessen Hilfe in der Dichtung Charaktere<br />
„geschaffen“ werden – er wird gewöhnlich als Gewähr dafür angeführt, [452] daß<br />
diese Gestalten typischer sind als lebende Personen. Gewöhnlich sagt man: „Der Dichter<br />
beobachtet eine Menge lebender, individueller Persönlichkeiten; keine einzige von ihnen<br />
kann als vollendeter Typus dienen; aber er bemerkt, was jede von ihnen Allgemeines, Typisches<br />
hat; alles Besondere beiseite lassend, vereinigt er die auf verschiedene Leute verstreuten<br />
Züge zu einem künstlerischen Ganzen und schafft auf diese Weise einen Charakter, der<br />
als Quintessenz wirklicher Charaktere bezeichnet werden kann.“ Nehmen wir an, daß das<br />
alles völlig richtig ist und daß es sich stets gerade so abspielt; aber die Quintessenz einer Sache<br />
ähnelt gewöhnlich nicht der Sache selbst: Tein ist nicht Tee, Alkohol nicht Wein. Nach<br />
der obenangeführten Regel verfahren tatsächlich jene „Verfasser“, die uns an Stelle von<br />
Menschen Quintessenzen des Heroismus und der Bosheit in Gestalt von Ungeheuern des Lasters<br />
und von steinernen Heroen vorsetzen. Alle – oder fast alle – jungen Leute verlieben sich<br />
– da haben wir einen gemeinsamen Zug, in den übrigen ähneln sie einander nicht; und in allen<br />
Dichtwerken werden wir mit jungen Mädchen und jungen Burschen erfreut, die immer<br />
nur von Liebe träumen und reden und den ganzen Roman hindurch nichts anderes tun, als an<br />
Liebe leiden oder in Seligkeit schwimmen; alle betagten Leute reden gern weise daher, im<br />
übrigen sind sie einander nicht ähnlich; alle Großmütter lieben ihre Enkel usw. –und so bevölkern<br />
sich die Novellen und Romane mit alten Männern, die nichts anderes tun, als weise<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013