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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 211<br />
schen Inspiration und Gefühl besteht der gleiche Unterschied wie zwischen Phantasie und<br />
Wirklichkeit, zwischen Traum und Sinneseindruck.<br />
Die ursprüngliche und wesentliche Bestimmung der Instrumentalmusik ist die Begleitung des<br />
Gesangs. In der Folge jedoch, als der Gesang für die oberen Klassen vorwiegend zu Kunst<br />
wurde und die Hörer anfingen, sehr anspruchsvoll in bezug auf die Gesangstechnik zu werden,<br />
war die Instrumentalmusik aus Mangel an befriedigendem Gesang bemüht, diesen zu<br />
ersetzen, und trat als etwas Selb-[449]ständiges auf; zwar gewinnt sie dank der Vervollkommnung<br />
der Musikinstrumente, der außerordentlichen Entwicklung des Spiels und des<br />
bevorzugten Interesses für die Ausführung statt für den Inhalt auch das Anrecht auf eine selbständige<br />
Bedeutung. Nichtsdestoweniger hat sich aber das wahre Verhältnis der Instrumentalmusik<br />
zum Gesang in der Oper, dieser vollkommensten Form der Musik als Kunst, und auf<br />
einigen anderen Gebieten der Konzertmusik erhalten. Und man kann nicht umhin festzustellen,<br />
daß trotz der ganzen Unnatürlichkeit unseres Geschmacks, trotz der verfeinerten Vorliebe<br />
für alle Schwierigkeiten und Kniffe einer glänzenden Technik alle Menschen fortfahren,<br />
dem Gesang den Vorzug vor der Instrumentalmusik zu geben: kaum setzt der Gesang ein,<br />
hören wir auf, dem Orchester Aufmerksamkeit zu schenken. Über alle anderen Instrumente<br />
wird die Geige gestellt, weil sie „von allen Instrumenten der menschlichen Stimme am nächsten<br />
kommt“; es ist das höchste Lob für einen Musikanten, wenn man von ihm sagt: „aus den<br />
Tönen seines Instruments ist eine menschliche Stimme zu hören“. Also: die Instrumentalmusik<br />
ist Nachahmung des Gesangs, seine Begleitung oder sein Surrogat; der Gesang als<br />
Kunstwerk ist nur Nachahmung und Surrogat des Gesangs als Naturerzeugnis. Danach haben<br />
wir das Recht, zu sagen, daß in der Musik die Kunst nur eine schwache Reproduktion von<br />
Erscheinungen des Lebens ist, die von unserem Streben zur Kunst unabhängig sind.<br />
Gehen wir zur höchsten und reichsten der Künste über, zur Dichtung, deren Probleme die<br />
ganze Theorie der Kunst in sich schließen. Unermeßlich überragt die Dichtung die anderen<br />
Künste durch ihren Inhalt; alle anderen Künste sind nicht imstande, uns auch nur den hundertsten<br />
Teil von dem zu sagen, was die Dichtung sagt. Doch dieses Verhältnis ändert sich<br />
völlig, sobald wir unsere Aufmerksamkeit der Stärke und Lebendigkeit des subjektiven Eindrucks<br />
zuwenden, der von der Dichtung einerseits und von den anderen Künsten anderseits<br />
ausgeht. Alle anderen Künste wirken, ähnlich wie die lebendige Wirklichkeit, unmittelbar auf<br />
die Sinne ein, die Dichtung wirkt auf die Phantasie; bei manchen Menschen ist die Phantasie<br />
bedeutend empfänglicher [450] und lebendiger als bei anderen, im allgemeinen jedoch läßt<br />
sich sagen, daß ihre Bilder beim gesunden Menschen im Vergleich mit den Sinneswahrnehmungen<br />
blaß und schwach sind; deshalb muß gesagt werden, daß hinsichtlich der Stärke und<br />
Klarheit des subjektiven Eindrucks die Dichtung nicht nur hinter der Wirklichkeit, sondern<br />
auch hinter allen anderen Künsten weit zurückbleibt. Untersuchen wir einmal, zu welchem<br />
Grad von objektiver Vollkommenheit des Inhalts und der Form es die Werke der Dichtung<br />
bringen, und ob sie es wenigstens in dieser Beziehung mit der Natur aufnehmen kann.<br />
Man redet viel von der „Vollendung“, „Individualität“, „lebendigen Bestimmtheit“ der Personen<br />
und Charaktere, die die großen Dichter geschaffen haben. Gleichzeitig aber sagt man<br />
uns, „das sind indessen nicht Einzelpersonen, sondern allgemeine Typen“; nach einem derartigen<br />
Satz wäre es überflüssig zu beweisen, daß die allerbestimmteste, hervorragend gezeichnete<br />
Gestalt in einem Dichtwerk nur eine allgemeine, unbestimmt umrissene Skizze bleibt,<br />
die lebendige, bestimmte Individualität nur durch die Einbildungskraft (eigentlich durch die<br />
Erinnerungen) des Lesers erhält. Die Gestalt der Dichtung verhält sich zur wirklichen, lebendigen<br />
Gestalt ebenso wie das Wort zum wirklichen Gegenstand, den es bezeichnet – sie ist<br />
nur eine blasse und allgemeine, unbestimmte Andeutung der Wirklichkeit. Viele Menschen<br />
sehen in dieser „Allgemeinheit“ der dichterischen Gestalt ihre Überlegenheit über die Menschen,<br />
die uns im wirklichen Leben entgegentreten. Diese Meinung beruht auf der angenom-<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013