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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 210<br />

hieraus sehen wir, daß der Gesang, der eine Schöpfung des Gefühls ist, und die Kunst, die<br />

sich um Form bemüht, zwei völlig verschiedene Dinge sind. Der Gesang ist ursprünglich und<br />

wesentlich – ähnlich wie die mündliche Mitteilung – ein Erzeugnis des praktischen Lebens<br />

und nicht der Kunst; aber wie jedes „Können“ braucht auch das Singen Gewohnheit, Übung,<br />

Praxis, um eine hohe Stufe der Vollkommenheit zu erreichen; wie alle Organe erfordert auch<br />

das Organ des Gesanges – die Stimme – Ausbildung, Studium, um zu [447] einem gehorsamen<br />

Werkzeug des Willens zu werden – und der Naturgesang wird in dieser Beziehung zur<br />

„Kunst“, jedoch nur in dem Sinne, in dem die Fertigkeit zu schreiben, zu rechnen, zu pflügen,<br />

kurz, jede praktische Tätigkeit „Kunst“ genannt wird, und durchaus nicht in dem Sinne, den<br />

die Ästhetik dem Wort „Kunst“ beilegt.<br />

Aber als Gegensatz zum Naturgesang gibt es den Kunstgesang, der danach strebt, den Naturgesang<br />

nachzuahmen. Das Gefühl gibt allem, was unter seinem Einfluß geschieht, ein besonderes,<br />

hohes Interesse; es verleiht sogar allem besonderen Reiz, besondere Schönheit. Ein<br />

von Trauer oder Freude beseeltes Gesicht ist tausendmal schöner als ein kaltes. Der Naturgesang,<br />

der als Ausfluß des Gefühls ein Erzeugnis der Natur und nicht der um Schönheit bemühten<br />

Kunst ist, besitzt jedoch hohe Schönheit; deshalb entsteht im Menschen der Wunsch,<br />

im Gesang absichtlich den Naturgesang nachzuahmen. Wie verhält sich dieser Kunstgesang<br />

zum natürlichen – Er ist viel durchdachter, er ist berechneter, er ist ausgeschmückt mit allem,<br />

womit das Genie des Menschen ihn nur ausschmücken kann: wie wollte man eine Arie<br />

aus einer italienischen Oper mit einem einfachen, monotonen, melodiearmen Volkslied vergleichen<br />

– Doch alle Gelehrtheit der Harmonie, alle Eleganz der Ausarbeitung, der ganze<br />

Reichtum der Schmuckformen einer genialen Arie, die ganze Schmiegsamkeit, der ganze<br />

unvergleichliche Reichtum der Stimme, die sie zum Vortrag bringt, sind kein Ersatz für den<br />

Mangel an jenem echten Gefühl, das in der ärmlichen Melodie des Volkslieds und der anspruchslosen,<br />

wenig ausgebildeten Stimme des Menschen liegt, der nicht aus dem Wunsche<br />

heraus singt, zu glänzen und seine Stimme, seine Kunst zur Geltung zu bringen, sondern aus<br />

dem Bedürfnis, sein Gefühl ausströmen zu lassen. Der Unterschied zwischen Naturgesang<br />

und Kunstgesang ist der Unterschied zwischen dem Schauspieler, der eine lustige oder traurige<br />

Rolle spielt, und dem Menschen, der wirklich aus irgendeinem Grunde lustig oder traurig<br />

ist – der Unterschied zwischen dem Original und einer Kopie, zwischen Wirklichkeit und<br />

Nachahmung. Wir fügen gleich hinzu, daß in dem Komponisten tatsächlich das Gefühl lebendig<br />

sein kann, [448] das in seinem Werk zum Ausdruck kommen soll; dann kann er etwas<br />

schreiben, was nicht nur an äußerer Schönheit, sondern auch an innerem Wert weit über das<br />

Volkslied hinausgeht, in diesem Falle wird sein Werk jedoch ein Werk der Kunst oder des<br />

„Könnens“ nur in technischer Beziehung sein, nur in dem Sinne, in dem alle Werke von<br />

Menschenhand, soweit sie mit Hilfe von gründlichem Studium, Überlegungen und mit dem<br />

Bemühen, „es möglichst gut zu machen“, zustande kommen, Kunstwerke genannt werden<br />

können; eigentlich jedoch ist das unter dem vorherrschenden Einfluß eines unwillkürlichen<br />

Gefühls geschriebene Werk eines Komponisten eine Schöpfung der Natur (des Lebens) überhaupt,<br />

nicht aber der Kunst. Ganz ebenso kann ein kunstreicher und für Eindrücke empfänglicher<br />

Sänger ganz in seiner Rolle aufgehen und das Gefühl in sich aufnehmen, das sein Lied<br />

zum Ausdruck bringen soll, und dann wird er es auf der Bühne vor dem Publikum besser<br />

singen als ein anderer, der nicht auf der Bühne singt, – aus Gefühlsüberschwang und nicht<br />

wie vor einem Publikum; doch in diesem Falle hört der Sänger auf, Schauspieler zu sein, und<br />

sein Gesang wird zum Lied der Natur selbst, und nicht zum Kunstwerk. Wir denken nicht<br />

daran, diese Gefühlsbegeisterung mit der Inspiration zu verwechseln: die Inspiration ist eine<br />

besonders günstige Stimmung der schöpferischen Phantasie; sie hat mit der Gefühlsbegeisterung<br />

nur das eine gemeinsam, daß bei Menschen, die mit dichterischem Talent und gleichzeitig<br />

mit besonderer Empfänglichkeit für Eindrücke begabt sind, die Inspiration in Gefühlsbegeisterung<br />

übergehen kann, wenn der Gegenstand der Inspiration zu Gefühl disponiert. Zwi-<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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