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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 209<br />
tung eines Bildes wirklich, wenn die Maler sich bemühen, der Menschengruppe eine Umgebung<br />
zu geben, die dem Charakter der Gruppe entspricht In der Mehrzahl der Fälle ist das<br />
zweifelhaft. Wird es nicht gar zu [445] einförmig, Szenen glücklicher Liebe stets mit den<br />
Strahlen der fröhlichen Sonne zu beleuchten und sie ins lachende Grün der Wiesen zu verlegen,<br />
zudem noch in den Frühling, „wo die ganze Natur Liebe atmet“, Verbrecherszenen dagegen<br />
durch Blitze zu erhellen und in wilde Felsen zu verlegen Und erhöht nicht überdies eine<br />
nicht völlig mit dem Charakter der Szene harmonierende Umgebung, wie sie in der Wirklichkeit<br />
gewöhnlich vorkommt, durch ihre Disharmonie den Eindruck, den die Szene selbst hervorruft<br />
Hat nicht fast immer die Umgebung Einfluß auf den Charakter der Szene, gibt sie ihr<br />
nicht neue Nuancen, verleiht sie ihr nicht eben dadurch mehr Frische und mehr Leben<br />
Die endgültige Schlußfolgerung aus diesen Überlegungen über Bildhauerei und Malerei: wir<br />
sehen, daß die Werke der einen wie der anderen Kunst in vielen und sehr wesentlichen Elementen<br />
(in der Schönheit der Formen, der absoluten Vollkommenheit der Ausführung im<br />
Ausdruck usw.) unermeßlich hinter der Natur und dem Leben zurückstehen; außer einem<br />
einzigen unwichtigen Vorzug der Malerei jedoch, über den wir soeben gesprochen haben,<br />
sehen wir entschieden nichts, worin ein Werk der Bildhauerei oder der Malerei der Natur<br />
oder dem wirklichen Leben überlegen wäre.<br />
Jetzt haben wir noch von der Musik und von der Dichtung zu sprechen – den höchsten, vollkommensten<br />
Künsten, vor denen, wie die herrschende ästhetische Theorie, einen in gemilderter<br />
Form richtigen Gedanken übertreibend, behauptet, sowohl Malerei wie Bildhauerei nicht<br />
bestehen können.<br />
Doch vorerst müssen wir unsere Aufmerksamkeit der Frage zuwenden: in welchem Verhältnis<br />
steht die Instrumentalmusik zur Vokalmusik, und in welchen Fällen kann man die Vokalmusik<br />
als Kunst bezeichnen<br />
Die Kunst ist die Tätigkeit, vermittels derer der Mensch sein Streben nach dem Schönen verwirklicht<br />
– das ist die übliche Definition der Kunst; wir sind mit ihr nicht einverstanden; aber<br />
solange wir nicht unsere Kritik geäußert haben, haben wir noch nicht das Recht, sie aufzugeben,<br />
werden aber, auch wenn wir später an Stelle der hier von uns angeführten Definition<br />
jene setzen, die uns richtig scheint, dadurch nichts an unseren Schlußfolgerungen hinsichtlich<br />
[446] der Frage ändern: Ist der Gesang immer Kunst, und in welchen Fällen wird er zur<br />
Kunst – Was ist das erste Bedürfnis, unter dessen Einfluß der Mensch zu singen beginnt ist<br />
daran irgendwie das Streben nach dem Schönen beteiligt Uns scheint, daß es ein vom Bemühen<br />
um das Schöne völlig verschiedenes Bedürfnis ist. Ein ruhiger Mensch kann verschlossen<br />
sein, er kann schweigen. Ein Mensch, der unter dem Einfluß des Gefühls der Freude<br />
oder der Trauer steht, wird mitteilsam; mehr noch: er kann nicht umhin, seinem Gefühl<br />
nach außen hin Ausdruck zu geben: „Das Gefühl verlangt Ausdruck.“ Auf welche Weise tritt<br />
es nun an die Außenwelt Auf verschiedene, je nach Charakter. Plötzliche und erschütternde<br />
Empfindungen äußern sich in einem Schrei oder Ausruf; unangenehme Gefühle, die in physischen<br />
Schmerz übergehen, äußern sich in verschiedenen Grimassen und Gesten; das Gefühl<br />
starken Unbehagens ebenfalls in unruhigen, abgehackten Gesten; die Gefühle der Freude und<br />
des Kummers schließlich in der Mitteilung, wenn jemand da ist, zu dem man reden kann,<br />
oder im Gesang, wenn niemand da ist, zu dem man reden kann, oder wenn der Mensch sich<br />
nicht mitteilen möchte. Dieser Gedanke findet sich unbedingt in jeder Betrachtung über das<br />
Volkslied. Merkwürdig ist nur, warum man nicht die Tatsache beachtet, daß der Gesang, der<br />
seinem Wesen nach Ausdruck der Freude oder des Kummers ist, durchaus nicht unserem<br />
Streben nach dem Schönen entspringt. Wird denn ein Mensch wirklich unter dem vorherrschenden<br />
Einfluß des Gefühls noch daran denken, wie er zu Anmut und Grazie kommt, wird<br />
er sich um Form kümmern Gefühl und Form sind einander entgegengesetzt. Allein schon<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013