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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 208<br />
kann doch die Landschaft besser gruppieren“ – Das bezweifeln [443] wir; wenigstens findet<br />
man in der Natur auf Schritt und Tritt Bilder, denen nichts hinzuzufügen, aus denen nichts zu<br />
entfernen ist. Etwas anderes sagen viele Menschen, die ihr Leben dem Studium der Kunst<br />
gewidmet und die Natur aus dem Auge verloren haben. Aber das einfache, natürliche Gefühl<br />
jedes Menschen, der nicht parteiisch in artistischer oder dilettantischer Einseitigkeit befangen<br />
ist, wird mit uns einverstanden sein, wenn wir sagen, daß es in der Natur sehr viele Örtlichkeiten<br />
und Schauspiele gibt, für die man sich nur begeistern kann und an denen es nichts auszusetzen<br />
gibt. Geht in einen ordentlichen Wald – wir sprechen nicht von den Wäldern Äquatorialamerikas,<br />
wir sprechen von jenen Wäldern, die schon unter der Hand des Menschen<br />
gelitten haben, von unseren europäischen Wäldern –‚ was mangelt diesem Wald Wem ist<br />
beim Anblick eines richtigen Waldes je der Gedanke gekommen, daß in diesem Wald irgend<br />
etwas zu ändern, zu ergänzen wäre, um den ästhetischen Genuß an ihm zu vervollkommnen<br />
Fahrt zwei-, dreihundert Werst weit – wir sagen nicht in Italien oder in der Schweiz, oder in<br />
den an sie angrenzenden Teilen Deutschlands, nein, in Mittelrußland, von dem man sagt, es<br />
sei arm an schönen Aussichten –‚ wieviel Plätze werdet ihr auf dieser kleinen Reise finden,<br />
die euch begeistern werden und bei deren Anblick ihr in eurer Freude nicht auf den Gedanken<br />
kommt: „Wenn man dort dies hinzufügte, da jenes wegließe, wäre die Landschaft schöner.“<br />
Ein Mensch mit unverdorbenem ästhetischem Empfinden hat vollen Genuß an der Natur und<br />
findet keine Mängel an ihrer Schönheit. Die Meinung, daß eine gemalte Landschaft großartiger,<br />
lieblicher oder in irgendeiner anderen Hinsicht schöner sein könne als die wirkliche Natur,<br />
verdankt ihre Entstehung teilweise einem Vorurteil, über das sich heutzutage selbstgefällig<br />
selbst Leute lustig machen, die sich im Grunde genommen noch nicht von ihm befreit<br />
haben – dem Vorurteil, daß die Natur grob, gemein, schmutzig sei, daß man sie säubern und<br />
ausschmücken müsse, um sie zu veredeln. Das ist das Prinzip der gestutzten Gärten. Eine<br />
andere Quelle der Meinung von der Überlegenheit gemalter Landschaften über wirkliche<br />
werden wir weiter unten analysieren, wenn [444] wir die Frage untersuchen worin eigentlich<br />
der Genuß besteht, den Kunstwerke uns bereiten.<br />
Es bleibt noch zu betrachten, wie sich die dritte Kategorie Von Gemälden zur Natur verhält –<br />
die Gemälde, auf denen eine Gruppe von Menschen in einer Landschaft dargestellt ist. Wir<br />
haben gesehen, daß die von der Malerei dargestellte Gruppen und Landschaften der Idee nach<br />
unmöglich dem überlegen sein können, was uns die Wirklichkeit bietet, und der Ausführung<br />
nach stets unermeßlich hinter der Wirklichkeit zurückbleiben Richtig ist jedoch, daß eine<br />
Gruppe auf dem Bilde in eine Umgebung gestellt werden kann, die wirkungsvoller und sogar<br />
ihrem Wesen angemessener ist als die gewöhnliche wirkliche Umgebung (heitere Szenen spielen<br />
sich häufig in einer recht farblosen oder sogar traurigen Umgebung ab; erschütternde, erhabene<br />
Szenen oft, sogar meistens, in einer Umgebung, die durchaus nicht erhaben ist; und<br />
umgekehrt fehlt es einer Landschaft häufig an Gruppen, deren Charakter dem ihren angemessen<br />
wäre). Die Kunst füllt diese Lücke sehr leicht aus, und wir sind bereit zuzugeben, daß sie<br />
in dieser Hinsicht der Wirklichkeit überlegen ist. Aber indem wir diesen Vorzug anerkennen<br />
müssen wir untersuchen, erstens, inwieweit er von Bedeutung ist, und zweitens, ob er stets ein<br />
wirkhoher Vorzug ist. – Ein Gemälde stellt eine Landschaft und in ihr eine Gruppe Menschen<br />
dar. Gewöhnlich ist in solchen Fällen entweder die Landschaft nur der Rahmen für die Gruppe,<br />
oder die Menschengruppe ist nur zweitrangiges Beiwerk, während die Hauptsache auf dem<br />
Bild die Landschaft ist. Im ersteren Falle beschränkt sich der Vorzug der Kunst vor der Wirklichkeit<br />
darauf, daß sie für das Bild einen vergoldeten Rahmen anstatt eines einfachen zu finden<br />
gewußt hat; im zweiten Falle hat die Kunst ein vielleicht schönes, doch zweitrangiges<br />
Beiwerk hinzugefügt – auch das kein allzu großer Gewinn. 54 Aber wächst die innere Bedeu-<br />
54 Weiter heißt es im Manuskript: „Wenn also diese Art von Bildern einen Vorzug vor der Wirklichkeit besitzt,<br />
ist dieser so unwichtig, daß er kaum der Aufmerksamkeit wert ist.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013