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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 206<br />
Grund aller angeführten Überlegungen glauben wir, daß die Schön-[440]heit einer Statue der<br />
Schönheit des lebendigen individuellen Menschen nicht überlegen sein kann, weil das Abbild<br />
nicht schöner sein kann als das Original. Freilich ist eine Statue nicht immer das getreue Abbild<br />
eines Modells; zuweilen „verkörpert der Künstler in seiner Statue sein Ideal“ – wie aber<br />
ein seinem Modell nicht ähnliches Ideal eines Künstlers zustande kommt, darüber werden wir<br />
im weiteren zu sprechen Gelegenheit haben. Wir vergessen auch nicht, daß es neben den<br />
Formen bei einem Werk der Bildhauerkunst auch noch die Gruppierung und den Ausdruck<br />
gibt; aber diese beiden Elemente der Schönheit treten uns viel vollständiger beim Gemälde<br />
entgegen als bei der Statue; deshalb werden wir sie analysieren, wenn wir von der Malerei<br />
sprechen, zu der wir jetzt übergehen.<br />
Die Malerei müssen wir von unserem jetzigen Standpunkt aus einteilen in die Darstellung<br />
einzelner Figuren und Gruppen, in die Malerei, die die äußere Welt darstellt, und in die Malerei,<br />
die Figuren oder Gruppen in der Landschaft oder, allgemein gesprochen, in einer Umgebung<br />
darstellt.<br />
Was die Formen der einzelnen menschlichen Gestalt angeht, so steht die Malerei in dieser<br />
Beziehung nicht nur hinter der Natur, sondern auch hinter der Bildhauerei zurück: sie ist in<br />
der Formgebung notwendig weniger vollständig und bestimmt; dafür stellt sie, da sie die Farben<br />
zur Verfügung hat, den Menschen der lebendigen Natur bedeutend ähnlicher dar und<br />
kann seinem Gesicht bedeutend mehr Ausdruck verleihen als die Bildhauerkunst Wir wissen<br />
nicht, welchen Grad der Vollkommenheit die Herstellung der Farben mit der Zeit erreichen<br />
wird; doch bei dem heutigen Stand dieser Seite der Technik ist die Malerei nicht imstande,<br />
die Tönung des menschlichen Körpers überhaupt, besonders aber die Farbe des Gesichts gut<br />
wiederzugeben. Ihre Farben sind im Vergleich mit der Tönung des Körpers und des Gesichts<br />
eine grobe, klägliche Nachahmung; anstatt des zarten Körpers malt sie etwas Grünliches oder<br />
Rötliches; und wir müssen, absolut gesprochen und ohne in Betracht zu ziehen, daß auch zu<br />
dieser grünlichen oder rötlichen Wiedergabe ungewöhnliches „Können“ erforderlich ist,<br />
[441] zugeben, daß der lebendige Körper sich mit toten Farben nicht befriedigend wiedergeben<br />
läßt. Eine einzige seiner Tönungen gibt die Malerei recht gut wieder – die leblos gewordene,<br />
trockene Farbe des greisenhaften oder verhärteten Gesichts. 49 Auch mit Pockennarben<br />
bedeckte oder kränkliche Gesichter gelingen auf Gemälden unvergleichlich viel befriedigender<br />
als frische, junge. Das Beste gelingt in der Malerei am wenigsten befriedigend, das<br />
Schlechteste am befriedigendsten.<br />
Das gleiche läßt sich auch vom Ausdruck des Gesichts sagen. Besser als alle anderen Nuancen<br />
des Lebens vermag die Malerei krampfhafte Gesichtsverzerrungen bei vernichtend starken<br />
Affekten wiederzugeben, beispielsweise den Ausdruck des Zorns, des Schreckens, der<br />
Grausamkeit, der wilden Zügellosigkeit, physischer Schmerzen oder sittlichen Leidens, das in<br />
physisches Leiden übergeht; denn in diesen Fällen gehen mit den Gesichtszügen starke Veränderungen<br />
vor sich, die mit ziemlich groben Pinselstrichen hinreichend dargestellt werden<br />
können, und eine kleine Unrichtigkeit oder Unzulänglichkeit in den Einzelheiten verschwindet<br />
unter den kräftigen Strichen: die gröbste Andeutung ist hier für den Betrachter verständlich.<br />
Befriedigender als andere Nuancen des Ausdrucks wird auch Wahnsinn, Stumpfsinn<br />
oder Geistesabwesenheit wiedergegeben; denn hier ist fast nichts wiederzugeben, oder man<br />
muß Disharmonie wiedergeben – und Disharmonie wird durch Unvollkommenheit der Ausführung<br />
nicht verdorben, sondern gesteigert. Alle anderen Abwandlungen des Gesichtsaus-<br />
49 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „Aber die Malerei ist nicht imstande, die Farbe eines noch<br />
frischen Gesichts, die Farbe eines Körpers, der noch nicht zu erstarren begonnen hat, wiederzugeben. Die Gesichter<br />
von alten Leuten oder von Menschen, die durch Arbeit und Entbehrungen vergröbert und von der Sonne<br />
verbrannt sind, gelingen ihr weitaus befriedigender als zarte, junge, vor allem Frauengesichter.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013