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15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 204 auch einen schönen Pavillon betrachten, der zehntausend Francs wert ist. 46 Vielleicht wird er sagen, daß diese Dinge nicht so sehr Kunst- als Luxusgegenstände sind; vielleicht wird er sagen, daß wahre Kunst den Luxus scheut, weil die Einfachheit eines der wesentlichsten Merkmale des Schönen ist. Wie verhalten sich nun diese Erzeugnisse der frivolen Kunst zu der kunstlosen Wirklichkeit Die Frage wird damit beantwortet, daß es sich in allen von uns angeführten Fällen um Erzeugnisse der praktischen Tätigkeit des Menschen handelt, die sich in ihnen zwar von ihrer eigentlichen Bestimmung – etwas Nötiges oder Nützliches herzustellen – entfernt, dennoch aber ihr wesentliches Merkmal bewahrt hat – etwas herzustellen, was die Natur nicht hervorbringt. Deswegen kann sich gar nicht die Frage erheben, wie sich in diesen Fällen die Schönheit der Kunstwerke zur Schönheit der Schöpfungen der Natur verhält: in der Natur gibt es keine Gegenstände, mit denen man Messer, Gabeln, Tuch oder Uhren vergleichen könnte; genau so gibt es in ihr keine Gegenstände, mit denen man Häuser, Brücken, Säulen u. dgl. vergleichen könnte. Wenn man also selbst alle unter dem vorherrschenden Einfluß des Strebens nach dem Schönen hergestellten Erzeugnisse den schönen Künsten zurechnet, wird man sagen müssen, daß die Schöpfungen der Architektur entweder [437] ihren praktischen Charakter bewahren und dann kein Recht haben, als Kunstwerke betrachtet zu werden, oder wirklich zu Kunstwerken werden, daß dann aber die Kunst ebensoviel Recht hat, auf sie stolz zu sein wie auf die Erzeugnisse des Juwelierhandwerks. Nach unserer Auffassung vom Wesen der Kunst ist das Streben, etwas Schönes im Sinne von etwas Graziösem, Elegantem, Hübschem herzustellen, noch nicht Kunst; zur Kunst bedarf es, wie wir sehen werden, mehr; deswegen können wir uns keinesfalls entschließen, die Schöpfungen der Architektur als Kunstwerke zu bezeichnen. Die Architektur ist eine der praktischen Betätigungen des Menschen, denen allen das Streben nach Schönheit der Form nicht fremd ist, und unterscheidet sich in dieser Hinsicht vom Möbelbauhandwerk nicht durch ein wesentliches Merkmal, sondern nur durch den Umfang ihrer Schöpfung. Die Schöpfungen der Bildhauerei und der Malerei leiden unter einem allgemeinen Mangel, der sie den Schöpfungen der Natur und des Lebens unterlegen macht: sie sind leblos und unbeweglich; das wird von jedermann zugegeben, und es wäre deshalb überflüssig, sich über diesen Punkt zu verbreiten. Betrachten wir lieber die angeblichen Vorzüge dieser Künste gegenüber der Natur. Die Bildhauerei gibt die Formen des menschlichen Körpers wieder; alles übrige in ihr ist Beiwerk; darum werden wir nur darüber sprechen, wie sie die menschliche Gestalt darstellt. 47 Es ist zu einer Art Axiom geworden, daß die Schönheit der Züge der Venus von Medici oder von Milo, des Apollo von Belvedere usw. die Schönheit lebender Menschen bei weitem übertreffe. 48 In Petersburg gibt es weder die Venus von Medici noch den Apollo von Belvedere; aber es gibt Werke von Canova; deshalb können wir Einwohner von Petersburg so kühn sein, die Schönheit von Schöpfungen der Bildhauerei bis zu einem gewissen Grade zu beurteilen. Wir müssen sagen, daß es in Petersburg keine einzige Statue gibt, die an Schönheit der Gesichtszüge nicht hinter einer Unzahl lebender Menschen zurückbliebe, und daß man bloß durch eine belebte Straße zu gehen braucht, um einigen solcher Gesichter zu begegnen. 46 Hinter diesem Satz sind im Manuskript die folgenden Worte gestrichen: „Uns scheint, daß alle diese Dinge gleich unbedeutend sind; uns scheint, daß die auf sie verwendete Arbeit einfach in den Wind geschlagen ist.“ 47 Hinter diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „Ständig liest und hört man die Wendung: ‚Sie (oder er) ist schön wie eine griechische Statue (oder eine Statue von Canova)‘; ebenso häufig liest oder hört man die Wendung: ‚die unvergleichliche Formschönheit, die unvergleichliche Schönheit des Profils der großen Werke der Bildhauerkunst‘ usw.“ 48 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „‚Gewisse Statuen sind schöner als schöne wirkliche Menschen.‘ Gegen diese Sentenz aufzutreten gilt als ebenso entsetzlich, wie es früher einmal als entsetzlich galt, dagegen aufzutreten, daß Virgil der größte aller Dichter und jedes Wort des Aristoteles unwiderlegliche Wahrheit sei.“ OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 205 Hiermit wird ein großer Teil derer, die gewohnt sind, selbständig zu urteilen, [438] einverstanden sein. Wir wollen indessen diesen persönlichen Eindruck nicht als Beweis betrachten. Es gibt einen anderen, viel stichhaltigeren. Man kann mit mathematischer Genauigkeit beweisen, daß ein Kunstwerk sich an Schönheit der Züge nicht mit dem lebendigen Menschengesicht vergleichen kann: bekanntlich bleibt in der Kunst die Ausführung stets unermeßlich hinter dem Ideal zurück, das dem Künstler vorschwebt. Dieses Ideal selbst aber kann auf keinen Fall jenen lebenden Menschen an Schönheit überlegen sein, die der Künstler zu sehen Gelegenheit hatte. Die Macht der „schöpferischen Phantasie“ ist sehr begrenzt: sie kann nur in der Erfahrung gewonnene Eindrücke kombinieren; die Vorstellung gestaltet den Gegenstand nur um, vergrößert ihn extensiv, aber wir können uns nichts vorstellen, was intensiver wäre, als Was wir beobachtet oder erlebt haben. Ich kann mir die Sonne bedeutend größer vorstellen, als sie in Wirklichkeit ist; aber heller, als sie mir in Wirklichkeit erschienen ist, kann ich sie mir nicht vorstellen. Ganz ebenso kann ich mir einen Menschen vorstellen, der größer, dicker usw. ist als die Menschen, die ich gesehen habe; aber Gesichter, die schöner sind als die Gesichter, die ich in Wirklichkeit zu sehen Gelegenheit gehabt habe, kann ich mir nicht vorstellen. Das übersteigt die Kraft der menschlichen Phantasie. Eines könnte der Künstler tun: er könnte in seinem Ideal die Stirn der einen schönen Frau mit der Nase einer anderen und dem Mund und dem Kinn einer dritten vereinigen; unstreitig tun dies die Künstler zuweilen auch, es ist jedoch zweifelhaft: erstens, ob das nötig ist; zweitens, ob die Einbildung imstande ist, diese Teile zu vereinigen, wenn sie in der Wirklichkeit verschiedenen Personen gehören. Nötig wäre dies nur, wenn der Künstler an lauter Menschen geraten wäre, bei denen der eine Teil gut, die anderen aber schlecht wären. Gewöhnlich aber sind in einem Gesicht alle Teile fast gleichmäßig schön oder fast gleichmäßig häßlich, so daß der Künstler, wenn er beispielsweise mit der Stirn zufrieden ist, in fast dem gleichen Maße mit den Linien der Nase und des Mundes zufrieden sein kann. Gewöhnlich stehen in einem Gesicht, wenn es nicht verunstaltet ist, alle Züge miteinander in einer solchen [439] Harmonie, daß es die Schönheit des Gesichts verderben hieße, wollte man sie zerstören. Das lehrt uns die vergleichende Anatomie. Gewiß bekommt man sehr oft zu hören: „Wie schön wäre dieses Gesicht, wenn die Nase ein wenig höher säße, die Lippen etwas schmaler wären“ usw., – ohne im geringsten zu bezweifeln, daß bisweilen in einem ansonst schönen Gesicht ein einzelner seiner Teile unschön ist, glauben wir doch, daß eine derartige Unzufriedenheit gewöhnlich oder, besser gesagt, fast stets entweder einem mangelnden Verständnis für Harmonie entspringt oder einer Laune, die an völligen Mangel wahren, starken Vermögens und Bedürfnisses, das Schöne zu genießen grenzt. Die einzelnen Teile des menschlichen Körpers, wie auch die eines jeden lebenden Organismus, der sich unter dem Einfluß seiner Einheit ständig erneuert, stehen in engstem Zusammenhang, so daß die Form des einen Gliedes von den Formen aller übrigen abhängt, und diese ihrerseits hängen von seiner Form ab. Noch mehr gilt das für die verschiedenen Teile eines Organs, für die verschiedenen Teile des Gesichts. Die Abhängigkeit der Züge voneinander ist wie gesagt, wissenschaftlich bewiesen, doch auch ohne die Hilfe der Wissenschaft ist sie offenkundig für jeden, der Gefühl für Harmonie besitzt. Der menschliche Körper ist ein Ganzes; man kann ihn nicht in Teile zerreißen und sagen: dieser Teil ist gut geformt ist schön, dieser ist häßlich. Wie in vielen Fällen, so führt auch hier das mosaikartige Zusammenklauben, der Eklektizismus zu Widersinnigkeiten: nehmt alles hin oder nehmt nichts – nur dann werdet ihr recht haben, zumindest von euerm Standpunkt aus. Nur bei Mißgeburten, bei diesen eklektischen Geschöpfen, ist der Maßstab des Eklektizismus angebracht. Aber als die „großen Schöpfungen der Bildhauerkunst“ gemeißelt wurden, haben natürlich nicht sie Modell gestanden. Wenn ein Künstler für seine Statue die Stirn aus dem einen Gesicht, die Nase aus einem anderen, den Mund aus einem dritten nähme, würde er damit nur eins beweisen: seine eigene Geschmacklosigkeit oder zum mindesten seine Unfähigkeit, sich ein wirklich schönes Gesicht zum Vorbild zu nehmen. Auf OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 204<br />

auch einen schönen Pavillon betrachten, der zehntausend Francs wert ist. 46 Vielleicht wird er<br />

sagen, daß diese Dinge nicht so sehr Kunst- als Luxusgegenstände sind; vielleicht wird er<br />

sagen, daß wahre Kunst den Luxus scheut, weil die Einfachheit eines der wesentlichsten<br />

Merkmale des Schönen ist. Wie verhalten sich nun diese Erzeugnisse der frivolen Kunst zu<br />

der kunstlosen Wirklichkeit Die Frage wird damit beantwortet, daß es sich in allen von uns<br />

angeführten Fällen um Erzeugnisse der praktischen Tätigkeit des Menschen handelt, die sich<br />

in ihnen zwar von ihrer eigentlichen Bestimmung – etwas Nötiges oder Nützliches herzustellen<br />

– entfernt, dennoch aber ihr wesentliches Merkmal bewahrt hat – etwas herzustellen, was<br />

die Natur nicht hervorbringt. Deswegen kann sich gar nicht die Frage erheben, wie sich in<br />

diesen Fällen die Schönheit der Kunstwerke zur Schönheit der Schöpfungen der Natur verhält:<br />

in der Natur gibt es keine Gegenstände, mit denen man Messer, Gabeln, Tuch oder Uhren<br />

vergleichen könnte; genau so gibt es in ihr keine Gegenstände, mit denen man Häuser,<br />

Brücken, Säulen u. dgl. vergleichen könnte.<br />

Wenn man also selbst alle unter dem vorherrschenden Einfluß des Strebens nach dem Schönen<br />

hergestellten Erzeugnisse den schönen Künsten zurechnet, wird man sagen müssen, daß die<br />

Schöpfungen der Architektur entweder [437] ihren praktischen Charakter bewahren und dann<br />

kein Recht haben, als Kunstwerke betrachtet zu werden, oder wirklich zu Kunstwerken werden,<br />

daß dann aber die Kunst ebensoviel Recht hat, auf sie stolz zu sein wie auf die Erzeugnisse<br />

des Juwelierhandwerks. Nach unserer Auffassung vom Wesen der Kunst ist das Streben,<br />

etwas Schönes im Sinne von etwas Graziösem, Elegantem, Hübschem herzustellen, noch nicht<br />

Kunst; zur Kunst bedarf es, wie wir sehen werden, mehr; deswegen können wir uns keinesfalls<br />

entschließen, die Schöpfungen der Architektur als Kunstwerke zu bezeichnen. Die Architektur<br />

ist eine der praktischen Betätigungen des Menschen, denen allen das Streben nach Schönheit<br />

der Form nicht fremd ist, und unterscheidet sich in dieser Hinsicht vom Möbelbauhandwerk<br />

nicht durch ein wesentliches Merkmal, sondern nur durch den Umfang ihrer Schöpfung.<br />

Die Schöpfungen der Bildhauerei und der Malerei leiden unter einem allgemeinen Mangel,<br />

der sie den Schöpfungen der Natur und des Lebens unterlegen macht: sie sind leblos und unbeweglich;<br />

das wird von jedermann zugegeben, und es wäre deshalb überflüssig, sich über<br />

diesen Punkt zu verbreiten. Betrachten wir lieber die angeblichen Vorzüge dieser Künste gegenüber<br />

der Natur.<br />

Die Bildhauerei gibt die Formen des menschlichen Körpers wieder; alles übrige in ihr ist<br />

Beiwerk; darum werden wir nur darüber sprechen, wie sie die menschliche Gestalt darstellt. 47<br />

Es ist zu einer Art Axiom geworden, daß die Schönheit der Züge der Venus von Medici oder<br />

von Milo, des Apollo von Belvedere usw. die Schönheit lebender Menschen bei weitem übertreffe.<br />

48 In Petersburg gibt es weder die Venus von Medici noch den Apollo von Belvedere;<br />

aber es gibt Werke von Canova; deshalb können wir Einwohner von Petersburg so kühn sein,<br />

die Schönheit von Schöpfungen der Bildhauerei bis zu einem gewissen Grade zu beurteilen.<br />

Wir müssen sagen, daß es in Petersburg keine einzige Statue gibt, die an Schönheit der Gesichtszüge<br />

nicht hinter einer Unzahl lebender Menschen zurückbliebe, und daß man bloß<br />

durch eine belebte Straße zu gehen braucht, um einigen solcher Gesichter zu begegnen.<br />

46 Hinter diesem Satz sind im Manuskript die folgenden Worte gestrichen: „Uns scheint, daß alle diese Dinge<br />

gleich unbedeutend sind; uns scheint, daß die auf sie verwendete Arbeit einfach in den Wind geschlagen ist.“<br />

47 Hinter diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „Ständig liest und hört man die Wendung: ‚Sie (oder er) ist<br />

schön wie eine griechische Statue (oder eine Statue von Canova)‘; ebenso häufig liest oder hört man die Wendung:<br />

‚die unvergleichliche Formschönheit, die unvergleichliche Schönheit des Profils der großen Werke der<br />

Bildhauerkunst‘ usw.“<br />

48 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „‚Gewisse Statuen sind schöner als schöne wirkliche Menschen.‘<br />

Gegen diese Sentenz aufzutreten gilt als ebenso entsetzlich, wie es früher einmal als entsetzlich galt, dagegen<br />

aufzutreten, daß Virgil der größte aller Dichter und jedes Wort des Aristoteles unwiderlegliche Wahrheit sei.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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