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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 201<br />
italienischen Malern, was sich nur dann verstehen und würdigen läßt, wenn wir uns in die<br />
Vergangenheit und in ihre Auffassungen von den Dingen zurückversetzen. Führen wir ein<br />
Beispiel an, das unserer Zeit noch näherliegt: Goethes „Faust“ wird einem Menschen, der<br />
nicht imstande ist, sich in die Epoche der Bestrebungen und Zweifel zu versetzen, deren Ausdruck<br />
der „Faust“ ist, als seltsames Werk erscheinen. 41<br />
VI. „Das Wirklichkeitsschöne enthält viele unschöne Teile oder Einzelheiten.“ – Aber ist das<br />
in der Kunst nicht ebenso, nur in noch viel höherem Grade Man nenne mir ein Kunstwerk,<br />
an dem sich keine Mängel finden ließen. Die Romane Walter Scotts sind zu breit, die Romane<br />
von Dickens sind fast immer süßlich-sentimental und sehr oft auch zu breit, die Romane<br />
Thackerays werden einem zuweilen (oder, besser gesagt, sehr oft) über durch ihren ständigen<br />
Anspruch auf ironisch-boshafte Naivität. Aber die Ästhetik nimmt sich selten die Genies der<br />
Neuzeit zu Wegweisern; sie liebt vorwiegend Homer, die griechischen Tragiker und Shakespeare.<br />
Homers Epen sind zusammenhanglos; Äschylos und Sophokles sind zu streng und<br />
trocken, Äschylos fehlt es außerdem an Dramatik; Euripides ist weinerlich; Shakespeare ist<br />
rhetorisch und schwülstig; der künstlerische Aufbau seiner Dramen wäre durchaus gut, wenn<br />
man sie ein wenig umarbeiten würde, was Goethe auch vorschlägt. Gehen wir zur Malerei<br />
über, und wir werden das gleiche zugeben müssen: einzig gegen Raffael erhebt sich selten<br />
einmal eine Stimme, an allen anderen Malern hat man schon seit langem eine Menge schwacher<br />
Seiten entdeckt. Aber selbst Raffael wirft man Unkenntnis der Anatomie vor. Von der<br />
Musik brauchen wir gar nicht erst zu reden: Beethoven ist zu unverständlich und oft wild; bei<br />
Mozart ist die Orchestrierung schwach; bei den neueren Komponisten gibt [432] es zuviel<br />
Lärm und Krach. Nach Ansichten der Sachverständigen ist nur eine einzige Oper einwandfrei<br />
– der „Don Juan“; Laien finden sie langweilig. Wenn es in der Natur und im lebendigen<br />
Menschen keine Vollkommenheit gibt, so ist sie noch weniger in der Kunst und in den Taten<br />
des Menschen zu finden: „Es kann nichts in der Folge sein, was nicht in der Ursache, im<br />
Menschen ist.“ 42 Ein weites, grenzenloses Feld eröffnet sich dem, der die Absicht hat, die<br />
Schwäche überhaupt aller Kunstwerke nachzuweisen. Es versteht sich von selbst, daß ein<br />
derartiges Unternehmen von beißender Verstandesschärfe, nicht aber von Unvoreingenommenheit<br />
zeugen würde; bedauernswert ist der Mensch, der sich nicht vor den großen Werken<br />
der Kunst neigt; doch es ist verzeihlich, wenn übertriebenes Lob einen dazu zwingt, daran zu<br />
erinnern, daß, wenn selbst die Sonne Flecken hat, auch die „Erdendinge“ des Menschen nicht<br />
frei von ihnen sein können.<br />
VII. „Ein lebendiger Gegenstand kann schon deshalb nicht schön sein, weil sich in ihm der<br />
schwere, grobe Prozeß des Lebens vollzieht.“ – Das Kunstwerk ist ein lebloser Gegenstand;<br />
deshalb sollte man meinen, daß dieser Vorwurf es nicht trifft. Und dennoch ist eine solche<br />
Schlußfolgerung oberflächlich. Die Tatsachen sprechen gegen sie. Das Kunstwerk ist ein<br />
Produkt des Lebensprozesses, eine Schöpfung des lebendigen Menschen, der das Werk nicht<br />
ohne schweren Kampf hervorgebracht hat, und das Erzeugnis trägt die schwere große Spur<br />
des Kampfes im Erzeugungsprozeß. Gibt es etwa viele Dichter und Maler, die spielend arbeiten,<br />
so wie Shakespeare angeblich spielend und ohne Korrekturen seine Dramen schrieb<br />
Wenn aber das Werk nicht ohne schwere Arbeit geschaffen wurde, so wird es „die Flecken<br />
der Öllampe“ tragen, bei deren Schein der Künstler arbeitete. Eine gewisse Schwere kann<br />
41 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript: „Beweis hierfür ist der heutzutage ständig zu hörende Satz: Mephisto<br />
sei ein ziemlich kläglicher Dämon; wirklich sind die Zweifel, von denen Faust geschüttelt wird, für einen<br />
gebildeter Menschen unserer Zeit kläglich und komisch.“ Hinter „Zweifel“ stand im Manuskript ursprünglich<br />
noch: „und die Spöttereien“.<br />
42 Dieser Satz ist am Rand von Nikitenko angestrichen. Im Manuskript lautet das Ende des Satzes hinter den<br />
Worten „was nicht“: „‚in der Ursache ist‘ – ein Axiom, das schon die Scholastiker kannten; was nicht im Menschen<br />
ist, das kann auch nicht in der Kunst, als einem Werk des Menschen, sein“.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013