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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 200<br />
gar in etwas Unangenehmes oder Abstoßendes verwandelt. Wir wollen keine Beispiele anführen<br />
außer den Eklogen Virgils, dieses bescheidensten der römischen Dichter. 38<br />
Wenden wir uns von der Dichtung den anderen Künsten zu. Die Schöpfungen der Musik gehen<br />
mit den Instrumenten unter, für die sie geschrieben wurden. Die ganze alte Musik ist für uns<br />
verloren. 39 Die Schönheit der alten Musikwerke verblaßt mit der Vervollkommnung der Orchestrierung.<br />
Die Farben in der Malerei verblassen und dunkeln sehr rasch nach; Bilder des 16.<br />
und 17. Jahrhunderts haben schon längst ihre ursprüngliche Schönheit verloren. So stark auch<br />
der Einfluß aller dieser Umstände ist, so liegt doch der Hauptgrund für die Vergänglichkeit der<br />
Kunstwerke nicht bei ihnen; er besteht in dem Einfluß, den der Geschmack der Epoche auf sie<br />
ausübt, und der fast immer der Einfluß einer [430] einseitigen und sehr häufig verlogenen Modestimmung<br />
ist. Die Mode hat fast jedes Drama Shakespeares für den ästhetischen Genuß in<br />
unserer Zeit zur Hälfte ungeeignet gemacht; die Mode, die sich auf die Tragödien von Racine<br />
und Corneille ausgewirkt hat, ist schuld daran, daß wir uns an ihnen nicht so sehr erfreuen, als<br />
daß wir über sie lachen. Weder in der Malerei noch in der Musik oder in der Architektur findet<br />
sich wohl ein einziges vor 100 oder 150 Jahren geschaffenes Werk, das uns heute, ungeachtet<br />
der ganzen Stärke des Genies, dessen Stempel es trägt, nicht entweder matt oder lächerlich erschiene.<br />
Und die heutige Kunst wird in fünfzig Jahren oft ein Lächeln hervorrufen.<br />
IV. „Das Wirklichkeitsschöne ist flüchtig in seiner Schönheit.“ – Das ist richtig; aber das<br />
Kunstschöne ist leblos-unbeweglich in seiner Schönheit, das ist viel schlimmer. Einen lebendigen<br />
Menschen kann man stundenlang betrachten; eines Bildes wird man schon nach einer<br />
Viertelstunde überdrüssig, und selten sind die Beispiele von Dilettanten, die es eine ganze<br />
Stunde vor einem Bild aushalten. Die Werke der Dichtung sind lebendiger als die Werke der<br />
Malerei, Architektur und Bildhauerei; aber auch ihrer werden wir ziemlich rasch satt: gewiß<br />
wird sich kein Mensch finden, der imstande wäre, einen Roman fünfmal hintereinander zu<br />
lesen; das Leben, lebendige Menschen und wirkliche Ereignisse sind dagegen durch ihre<br />
Mannigfaltigkeit immer anziehend.<br />
V. „Die Schönheit wird nur dadurch in die Natur hineingetragen, daß wir sie von diesem und<br />
nicht von einem anderen Standpunkt aus betrachten“ – ein fast niemals richtiger Gedanke;<br />
auf Kunstwerke dagegen trifft er fast immer zu. Alle Kunstwerke, die nicht zu unserer Epoche<br />
und nicht zu unserer Zivilisation gehören, erfordern unbedingt, daß wir uns in jene Epoche,<br />
in jene Zivilisation versetzen, die sie hervorgebracht hat; anders erscheinen sie uns unverständlich<br />
und seltsam, aber nicht schön. Wenn wir uns nicht in das alte Griechenland zurückversetzen,<br />
erscheinen uns die Lieder der Sappho oder des Anakreon als Ausdruck eines<br />
antiästhetischen Vergnügens und erinnern irgendwie an jene Produkte unserer Zeit, deren<br />
sich die Presse schämt. [431] Wenn wir uns nicht in Gedanken in die patriarchalische Gesellschaft<br />
zurückversetzen, werden die Gesänge Homers uns durch Zynismus, grobe Gefräßigkeit<br />
und Mangel an sittlichem Empfinden beleidigen. 40 Aber die griechische Welt liegt uns gar zu<br />
fern; nehmen wir eine näherliegende Epoche. Wieviel gibt es bei Shakespeare oder bei den<br />
38 Im Manuskript folgt die von Nikitenko gestrichene Stelle: „Was die Entwicklung des sittlichen Gefühls für<br />
den Inhalt tut, das tut die Entwicklung des ästhetischen Gefühls für die Form; wir wollen nicht darauf hinweisen,<br />
daß die begabten Dichter der pseudoklassischen Epoche für uns ihre Schönheit verloren haben – jedermann<br />
gibt zu, daß Shakespeares Sprache häufig schrecklich gesucht und schwülstig ist.“<br />
39 Vor den Worten ‚.für uns verloren“ hieß es im Manuskript ursprünglich: „infolge der Veränderung des Systems<br />
der Notenbezeichnung“. Diese Worte sind später von Nikitenko gestrichen.<br />
40 Hinter diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „Ich will gar nicht einmal von den Gemälden und Statuen<br />
sprechen, die Leda und Ganymed darstellen: den unvorbereiteten Menschen erfaßt das Grauen vor solchen Mythen,<br />
und es ist sonderbar, daß man derartige Gemälde und Statuen nicht in besonderen Räumen verborgen hält,<br />
zu denen nur Fachgelehrte Zutritt haben. Man muß überhaupt zugeben, daß die Ausgaben ‚in usum Delphini‘<br />
und das Feigenblatt zum Teil ihre Berechtigung haben, sogar zu einem recht großen Teil.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013