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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 2<br />
ten Zeilen zu Gesicht zu bekommen, um auf eine nähere Bekanntschaft mit ihm zu verzichten:<br />
„Ein Werk, das sich mit der Theorie der Politik beschäftigt und sich dabei von der Tagespolitik<br />
fernhält, ist heutzutage fast etwas Neues“, sagt Jules Simon laut Herrn Lawrow zu Beginn<br />
seines Buches „Die Freiheit“. Diese zwei Dutzend Worte aus seinem Werk lassen genugsam<br />
erkennen, daß dem [64] Autor jedes Verständnis für die Regeln abgeht, nach denen alle Dinge<br />
auf Erden geschehen und, nebenbei gesagt, auch theoretische Abhandlungen geschrieben werden.<br />
Heutzutage entstehen politische Theorien unter dem Einfluß der Tagesereignisse, und die<br />
wissenschaftlichen Abhandlungen werden zum Echo des historischen Kampfes, haben den<br />
Zweck, den Gang der Ereignisse zu verlangsamen oder zu beschleunigen. Jules Simon ist der<br />
Meinung, früher sei es anders gewesen, sonst hätte er sich nicht des Wortes „heutzutage“ bedient.<br />
Aber nicht nur das: Jules Simon ist ferner der Meinung, alle Menschen unserer Epoche,<br />
und mit ihnen auch die Gelehrten, handelten nicht ganz richtig, wenn sie, statt als einfache<br />
Repräsentanten oder Anhänger abstrakter Lehren ohne lebendige Verbindung mit den Leidenschaften<br />
ihres Landes und ihrer Zeit, als Deuter und Vorkämpfer der Bestrebungen jeweils<br />
einer eigenen Partei auftreten: wenn er ihnen daraus keinen Vorwurf machte, hätte er sein<br />
Buch nicht als „der Tagespolitik fernstehend“ bezeichnet. Schließlich bildet er sich ein, er<br />
könne den Leser betrügen, oder glaubt ehrlich, die Wahrheit zu reden, wenn er sein Buch als<br />
ein „der Tagespolitik fernstehendes“ Werk bezeichnet. Unter dem Eindruck dieser drei Ansichten<br />
sind die Worte geschrieben, die Herr Lawrow aus Jules Simon anführt, und alle diese<br />
drei Ansichten sind so offenkundig falsch, daß sie entweder auf eine ungewöhnliche Naivität<br />
oder Kurzsichtigkeit Jules Simons oder darauf schließen lassen, daß es seiner Sprache allzusehr<br />
an Wahrhaftigkeit fehlt. Wir neigen zu der ersten Annahme, denn ein Mensch mit unsauberen<br />
Absichten versteht es, hinterlistig zu sein, Jules Simon dagegen bringt gar zu offenbare<br />
Ungereimtheiten vor, wie nur äußerste Naivität sie jemandem eingeben kann.<br />
Politische Theorien, ja überhaupt alle philosophischen Lehren haben bei ihrer Entstehung zu<br />
aller Zeit besonders stark unter dem Einfluß der gesellschaftlichen Verhältnisse gestanden,<br />
aus denen sie hervorgingen, und jeder Philosoph ist der Repräsentant irgendeiner der politischen<br />
Parteien gewesen, die zu seiner Zeit um die Herrschaft in der Gesellschaft stritten, der<br />
dieser Philosoph angehörte. Wir wollen nicht von den Denkern sprechen, die sich speziell<br />
[65] mit der politischen Seite des Lebens befaßten. Daß sie politischen Parteien angehörten,<br />
ist für jedermann nur zu deutlich erkennbar. Hobbes war Absolutist, Locke war Whig, Milton<br />
– Republikaner, Montesquieu – Liberaler von englischer Färbung, Rousseau – revolutionärer<br />
Demokrat, Bentham – einfach Demokrat, je nach Bedarf revolutionär oder nicht revolutionär;<br />
von derartigen Schriftstellern brauchen wir nicht weiter zu reden. Wenden wir uns den Denkern<br />
zu, die sich mit allgemeineren Theorien befaßt haben, den Schöpfern der metaphysischen<br />
Systeme, den sogenannten Philosophen im eigentlichen Sinne. Kant gehörte der Partei<br />
an, die die Freiheit in Deutschland auf revolutionärem Wege einführen wollte, aber vor terroristischen<br />
Mitteln zurückscheute. Fichte ging einige Schritte weiter: er scheut auch vor terroristischen<br />
Mitteln nicht zurück. Schelling vertrat die Partei, die, durch die Revolution in<br />
Schrecken versetzt, in den mittelalterlichen Institutionen Ruhe zu finden hoffte und den Feudalstaat<br />
wiederherstellen wollte, den Napoleon I. und die preußischen Patrioten, mit ihrem<br />
Wortführer Fichte an der Spitze, zerstört hatten. Hegel war ein gemäßigter Liberaler; ungemein<br />
konservativ in seinen Schlußfolgerungen, bejahte er im Kampf gegen die extreme Reaktion<br />
revolutionäre Grundsätze, wobei er hoffte, es werde ihm gelingen, den revolutionären<br />
Geist, dessen er sich in seiner Theorie zum Sturz des allzu morschen Alten bediente, nicht zur<br />
Entfaltung kommen zu lassen. Wir behaupten nicht nur, daß alle diese Männer solche Gesinnung<br />
als Privatleute hegten – das hätte noch nicht viel zu sagen –‚ sondern daß ihre philosophischen<br />
Systeme von Anfang bis zu Ende von dem Geist der politischen Parteien durchdrungen<br />
waren, denen die Verfasser der Systeme angehörten. Zu behaupten, früher sei es<br />
einmal anders gewesen und erst heutzutage hätten die Philosophen angefangen, ihre Systeme<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013