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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 199<br />

und ihm nicht gestatten, nur schön zu sein, so entwickelt sich auch das Werk des Malers oder<br />

des Dichters unter dem Einfluß einer großen Anzahl verschiedener Tendenzen, deren Resultat<br />

das gleiche sein muß. Freilich gibt es in den schönen Kunstwerken mehr Gewolltsein beim<br />

Hervorbringen des Schönen als in den schönen Schöpfungen anderer menschlicher Tätigkeiten,<br />

und es ist nicht zu bestreiten, daß es in der Tätigkeit der Natur überhaupt kein Gewolltsein<br />

gibt, deshalb könnte man zugeben, daß die Kunst in dieser Beziehung höher stehe<br />

als [428] die Natur, wenn das Gewolltsein der Kunst frei wäre von den Mängeln, von denen<br />

dies Natur frei ist. Aber wenn die Kunst auf der einen Seite durch das Gewolltsein gewinnt,<br />

verliert sie durch das gleiche auf der anderen Seite; die Sache ist die, daß der Künstler, wenn<br />

er etwas Schönes ersinnt, sehr häufig durchaus nichts Schönes ersonnen hat: es genügt nicht,<br />

das Schöne zu wollen, man muß es auch in seiner wahren Schönheit erfassen können, – wie<br />

oft aber irren sich die Künstler in ihrer Auffassung vom Schönen! wie oft täuscht sie sogar<br />

der künstlerische Instinkt, nicht nur die größtenteils einseitigen reflektiven Begriffe! Alle<br />

Mängel der Individualität sind in der Kunst untrennbar verbunden mit dem Gewolltsein.<br />

II. „Das Schöne ist in der Wirklichkeit selten anzutreffen. – Aber ist es etwa in der Kunst<br />

häufiger anzutreffen Wie viele wahrhaft tragische oder dramatische Begebenheiten ereignen<br />

sich täglich! Aber gibt es viele wahrhaft schöne Tragödien oder Dramen In der gesamten<br />

westlichen Literatur ‘drei, vier Dutzend, in der russischen, wenn wir nicht irren, außer „Boris<br />

Godunow“ und den „Szenen aus der Ritterzeit“ nicht eine einzige über dem Durchschnitt<br />

stehende. Wieviel Romane spielen sich in der Wirklichkeit ab! Aber gibt es viele wahrhaft<br />

schöne Romane Vielleicht je ein paar Dutzend in der englischen und der französischen Literatur<br />

und fünf, sechs in der russischen. Was ist leichter zu finden: eine schöne Landschaft in<br />

der Natur oder in der Malerei – Warum ist das so Weil es sehr wenige große Dichter und<br />

Maler, wie überhaupt auf jedem Gebiet wenige geniale Menschen gibt. Wenn in der Wirklichkeit<br />

vollendet günstige Gelegenheiten für das Zustandekommen von etwas Schonern oder<br />

Erhabenem selten sind, so sind günstige Gelegenheiten für die Geburt und die ungehinderte<br />

Entwicklung eines großen Genies noch seltener, weil hierzu das Zusammentreffen einer viel<br />

größeren Zahl von günstigen Umständen nötig ist. Dieser Vorwurf gegen die Wirklichkeit<br />

trifft also noch viel stärker für die Kunst zu.<br />

III. „Das Naturschöne ist vergänglich.“ – In der Kunst ist es häufig ewig, das ist wahr; doch<br />

nicht immer, denn auch die Werke der Kunst sind dem Untergang und dem [429] Verderb<br />

durch Zufälle ausgesetzt. Die griechischen Lyriker sind für uns verloren; verloren sind die<br />

Bilder des Apelles und die Statuen des Lysippos. Aber wir wollen, ohne uns hierbei aufzuhalten,<br />

zu anderen Ursachen der Nicht-Ewigkeit sehr vieler Kunstwerke übergehen, Ursachen,<br />

von denen das Schöne in der Natur frei ist – nämlich Mode und Veralten des Materials. Die<br />

Natur altert nicht, an Stelle ihrer verwelkten Schöpfungen bringt sie neue hervor; die Kunst<br />

besitzt diese ewige Fähigkeit der Regeneration, der Erneuerung nicht, dabei geht die Zeit<br />

auch an ihren Schöpfungen nicht spurlos vorüber. In den Dichtwerken veraltet die Sprache<br />

bald. 37 Noch viel wichtiger ist, daß im Laufe der Zeit vieles in den Dichtwerken für uns unverständlich<br />

wird (den derzeitigen Umständen entnommene Gedanken und Redewendungen,<br />

Anspielungen auf Ereignisse und Personen); vieles wird farblos und schal; gelehrte Kommentare<br />

können für die Nachkommen nicht alles so klar und lebendig machen, wie es für die<br />

Zeitgenossen war; zudem sind gelehrte Kommentare und ästhetischer Genuß entgegengesetzte<br />

Dinge; wir wollen schon gar nicht davon reden, daß ein Dichtwerk durch sie aufhört, allgemeinverständlich<br />

zu sein. Noch wichtiger ist, daß die Entwicklung der Zivilisation, die<br />

Wandlung der Begriffe ein Dichtwerk zuweilen aller Schönheit entkleidet, es manchmal so-<br />

37 Hinter „veraltet die Sprache bald“ stand der für die dritte Auflage gestrichene Satz: „Und wir können uns aus<br />

diesem Grunde an Shakespeare, Dante und Wolfram nicht so ungehindert erfreuen, wie es deren Zeitgenossen<br />

konnten.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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