Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig
Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig
Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 197<br />
riellen Interesse oder der praktischen Betrachtungsweise des Gegenstandes verschieden, ihnen<br />
jedoch nicht entgegengesetzt ist. Es genügt, das Zeugnis der Erfahrung anzurufen, daß<br />
auch ein wirklicher Gegenstand schön erscheinen kann, ohne materielles Interesse zu erregen:<br />
welcher eigennützige Gedanke regt sich denn in uns, wenn wir die Sterne, das Meer, einen<br />
Wald bewundern (muß ich denn, wenn ich einen wirklichen Wald betrachte, unbedingt überlegen,<br />
ob er sich zum Bau oder zum Heizen eines Hauses eignet) – welcher eigennützige<br />
Gedanke regt sich in uns, wenn wir dem Rauschen der Blätter, dem Lied der Nachtigall lauschen<br />
Was den Menschen betrifft, so lieben wir ihn häufig ohne jedes egoistische Motiv,<br />
ohne im geringsten an uns selbst zu denken; um so mehr kann er uns ästhetisch gefallen, ohne<br />
„stoffartige“ Erwägungen über unsere Beziehungen zu ihm wachzurufen. Schließlich entspringt<br />
der Gedanke, das Schöne sei reine Form, ganz unmittelbar der Auffassung, daß das<br />
Schöne bloßer Schein sei; und diese Auffassung ist wiederum die notwendige Folge der Definition<br />
des Schonen als der vollendeten Verwirklichung der Idee im einzelnen Gegenstande,<br />
und sie steht und fällt zusammen mit dieser Definition.<br />
Nach einer langen Reihe von Vorwürfen gegen das Wirklichkeitsschöne, die immer allgemeiner<br />
und stärker werden, kommen wir jetzt zur letzten, stärksten und allgemeinsten Ursache<br />
dafür, daß das reale Schöne angeblich nicht als wirklich schon angesehen werden kann.<br />
VIII. „Der einzelne Gegenstand kann schon deshalb nicht schön sein, weil er nicht absolut ist;<br />
das Schöne aber ist das Absolute.“ – Der Beweis ist tatsächlich unwiderleglich für die Hegelsche<br />
Schule selbst und für viele andere philosophische Schulen, die das Absolute zum Maßstab<br />
nicht nur der [425] theoretischen Wahrheit, sondern auch der praktischen Bestrebungen<br />
des Menschen machen. Diese Systeme sind jedoch bereits zerfallen und haben anderen Platz<br />
gemacht, die sich kraft des inneren dialektischen Prozesses aus ihnen entwickelt haben, das<br />
Leben aber gänzlich anders auffassen. Begnügen wir uns mit diesem Hinweis auf die philosophische<br />
Unhaltbarkeit der Betrachtungsweise, aus der sich die Unterordnung aller menschlichen<br />
Bestrebungen unter das Absolute ergeben hat, stellen wir uns für unsere Kritik auf<br />
einen anderen Standpunkt, der der rein ästhetischen Auffassung nähersteht, und sagen wir,<br />
daß überhaupt die Tätigkeit des Menschen nicht nach dem Absoluten strebt und nichts von<br />
ihm weiß, da sie rein menschliche Zwecke im Auge hat. Hierin sind das ästhetische Gefühl<br />
und die ästhetische Betätigung den anderen Gefühlen und Betätigungen des Menschen durchaus<br />
ähnlich. In der Wirklichkeit begegnet uns nichts Absolutes; deshalb können wir nicht aus<br />
Erfahrung sagen, welchen Eindruck absolute Schönheit auf uns machen würde; aber eines<br />
wissen wir auf alle Fälle aus Erfahrung – similis simili gaudet * , und deshalb gefällt uns individuellen<br />
Geschöpfen, die wir über die Grenzen unserer Individualität nicht hinauskönnen,<br />
die individuelle Schönheit, die nicht über die Grenzen ihrer Individualität hinauskann, sehr<br />
gut. 35 Danach werden weitere Widerlegungen überflüssig. Es bleibt nur hinzuzufügen, daß<br />
der Gedanke von der Individualität der wahren Schönheit vom gleichen System der ästhetischen<br />
Anschauungen entwickelt wurde, welches das Absolute zum Maßstab des Schönen<br />
macht. Aus dem Gedanken, daß Individualität ein wesentliches Kennzeichen des Schönen ist,<br />
ergibt sich von selbst die These, daß der Maßstab des Absoluten dem Gebiet des Schönen<br />
fremd ist – eine Schlußfolgerung, die im Widerspruch zu der Grundanschauung steht, die<br />
dieses System vom Schönen hat. Die Quelle derartiger Widersprüche, denen das System,<br />
über das wir sprechen, nicht immer entgeht, liegt darin, daß in ihm geniale Erfahrungsschlüs-<br />
* similis simili gaudet (lat.) – Ähnliches freut sich an Ähnlichem (Gleich und gleich gesellt sich gern). Die Red.<br />
35 Im Manuskript heißt es weiter: „Die Philosophie soll die Erfahrung nur erklären, denn sie hat kein Recht, sie<br />
abzulehnen; und es ist eine zweifellose Tatsache, daß die individuelle Schönheit dem Menschen gefällt, daß sie<br />
ihm als wahrhafte Schönheit erscheint. Mit dieser grundlegenden allgemeinen Tatsache, die alle Erscheinungen<br />
eines gesunden ästhetischen Lebens umfaßt, ist die Auffassung, nach der nur die absolute Schönheit echte<br />
Schönheit sein soll, durchaus widerlegt.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013