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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 196<br />

zialstudium der neusten Ästhetik vorgebildet ist, wird es merkwürdig vorkommen den zweiten<br />

Beweis zu hören, den diese Ästhetik zur Bestätigung dessen anführt, daß das sogenannte Wirklichkeitsschöne<br />

nicht im vollen Sinne des Wortes schön genannt werden könne.<br />

VII. „Ein wirklicher Gegenstand kann schon ‘deshalb nicht schön sein, weil er ein lebendiger<br />

Gegenstand ist, in dem sich der wirkliche Prozeß des Lebens mit all seiner Grobheit mit all<br />

seinen unästhetischen Einzelheiten vollzieht.“ – Man kann sich schwerlich einen höheren<br />

Grad von phantastischem Idealismus vorstellen. Wie, ein lebendiges Gesicht soll nicht schön<br />

sein, seine Darstellung auf einem Porträt oder seine Aufnahme auf ein Daguerreotyp dagegen<br />

schön und warum eigentlich Deshalb, weil auf dem lebendigen Gesicht unvermeidlich stets<br />

materielle Spuren des Lebensprozesses zu sehen sind; weil wir das lebendige Gesicht, wenn<br />

wir es durchs Mikroskop betrachten, stets mit Schweiß usw. bedeckt finden werden. Wie, ein<br />

lebender Baum könne nicht schön sein, weil auf ihm stets kleine Insekten nisten, die sich von<br />

seinen Blättern nähren Eine merkwürdige Meinung, die nicht einmal der Widerlegung bedarf;<br />

was gehen meine ästhetische Anschauung Dinge an, die sie nicht bemerkt Kann mein<br />

Empfinden durch irgendeinen Mangel beeinflußt werden, den es nicht fühlt <strong>Zur</strong> Widerlegung<br />

dieser Ansicht braucht man nicht einmal die Wahrheit anzuführen, daß es sonderbar<br />

Wäre, nach Leuten zu suchen, die nicht trinken, nicht essen, nicht das Bedürfnis verspüren<br />

sich zu waschen und die Wäsche zu wechseln. Es ist völlig nutzlos, sich über derartige Forderungen<br />

zu verbreiten. Betrachten wir lieber eine jener Ideen, aus denen ein so merkwürdiger<br />

Vorwurf gegen das Schöne in der Wirklichkeit entstanden ist, eine Idee, die eine der Hauptanschauungen<br />

der herrschenden Ästhetik [423] darstellt. Hier ist diese Idee: „Das Schöne ist<br />

nicht der Gegenstand selbst, sondern die reine Oberfläche, die reine Form des Gegenstandes.“<br />

* Die Haltlosigkeit dieser Anschauung vom Schönen tritt zutage, wenn wir uns die Quellen<br />

näher ansehen, aus denen sie stammt. Das Schöne nehmen wir meistens mit dem Auge<br />

wahr; das Auge aber sieht in sehr vielen Fällen nur die Hülle, die Umrisse, das Äußere des<br />

Gegenstandes und nicht seinen inneren Bau. Daraus läßt sich leicht der Schluß ziehen, daß<br />

das Schöne die Oberfläche des Gegenstandes sei und nicht der Gegenstand selbst. Aber erstens<br />

gibt es außer dem Schönen für das Auge auch das Schöne für das Gehör (Gesang und<br />

Musik), bei dem man durchaus von keiner Oberfläche sprechen kann. Zweitens sehen wir<br />

auch mit den Augen nicht immer nur die Hülle des Gegenstandes: bei den durchsichtigen<br />

Gegenständen sehen wir den ganzen Gegenstand, seinen ganzen inneren Bau; dem Wasser<br />

und den Edelsteinen verleiht ja gerade die Durchsichtigkeit ihre Schönheit. Schließlich ist der<br />

menschliche Körper, die höchste Schönheit auf Erden, halb durchsichtig, und wir sehen beim<br />

Menschen nicht ausschließlich die Oberfläche: durch die Haut scheint der Körper hindurch,<br />

und dieses Hindurchscheinen des Körpers gibt der menschlichen Schönheit einen außerordentlich<br />

großen Reiz. Drittens ist es seltsam zu behaupten, wir sähen auch bei völlig undurchsichtigen<br />

Körpern nur die Oberfläche und nicht den Gegenstand selbst: das Anschauen ist<br />

nicht ausschließlich Sache der Augen, an ihm ist stets der sich erinnernde und überlegende<br />

Verstand beteiligt; die Überlegung füllt die leere Form, die sich dem Auge darbietet, stets mit<br />

Materie. Der Mensch sieht einen sich bewegenden Gegenstand, obwohl das Organ seines<br />

Auges an sich Bewegung nicht sieht; der Mensch sieht die Entferntheit eines Gegenstandes,<br />

obwohl das Auge an sich Entfernung nicht sieht; ebenso sieht der Mensch einen materiellen<br />

Gegenstand, wenn sein Auge nur die Oberfläche sieht. Eine andere Quelle des Gedankens<br />

„Das Schöne ist die reine Oberfläche“ ist die Annahme, der [424] ästhetische Genuß sei unvereinbar<br />

mit dem materiellen Interesse, das wir an dem Gegenstand nehmen. Wir wollen uns<br />

nicht auf die Untersuchung einlassen, wie die Beziehung zwischen dem materiellen Interesse,<br />

das ein Gegenstand für uns hat, und dem ästhetischen Genuß an ihm aufzufassen ist, obwohl<br />

diese Untersuchung zu der Überzeugung führen würde, daß der ästhetische Genuß vom mate-<br />

* Vgl. F. Th. Vischer, a. a. O., Erster Teil, § 54-55, S. 146 ff. Die Red.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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