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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 195<br />
den Gegenstandes gar nicht schön sind.“ – Hier begegnen wir wieder dem Gedanken, daß<br />
Schönheit Vollkommenheit sei. Aber dieser Gedanke ist nur die besondere Anwendung des<br />
allgemeinen Gedankens, daß der Mensch überhaupt nur durch mathematisch Vollkommenes zu<br />
befriedigen sei; nein, das praktische Leben des Menschen überzeugt uns davon, daß er nur annähernde<br />
Vollkommenheit sucht, die, streng genommen, nicht einmal Vollkommenheit genannt<br />
werden darf. Der Mensch sucht nur das Gute, aber nicht das Vollkommene. Vollkommenheit<br />
fordert nur die reine Mathematik; selbst die angewandte Mathematik gibt sich mit annähernden<br />
Berechnungen zufrieden. Vollkommenheit in irgendeiner Lebenssphäre zu suchen, ist Sache<br />
einer abstrakten, krankhaften oder müßigen Phantasie. Wir möchten reine Luft atmen; aber<br />
achten wir darauf, daß es absolut reine Luft nirgends und niemals gibt Wir möchten reines<br />
Wasser trinken, aber kein absolut reines Wasser: vollkommen reines (destilliertes) Wasser<br />
schmeckt sogar unangenehm. Diese Beispiele sind zu materiell Führen wir andere an: kommt<br />
etwa irgend jemand auf den Gedanken, einen Menschen unwissend zu nennen, weil er nicht<br />
alles weiß Nein, wir suchen nicht einmal nach einem Menschen, der alles wüßte; wir fordern<br />
von einem Gelehrten nur, daß er alles Wesentliche weiß und daß er sehr viel weiß. Sind wir<br />
etwa zum Beispiel unzufrieden mit einem Geschichtsbuch, in dem nicht absolut alle Fragen<br />
erklärt, nicht absolut alle Einzelheiten angeführt, nicht bis ins Letzte alle Ansichten und Worte<br />
des Verfassers absolut richtig sind Nein, wir sind mit einem Buch zufrieden und sogar außerordentlich<br />
zufrieden, wenn in ihm die Hauptfragen gelöst, die unumgänglichsten Einzelheiten<br />
angeführt sind, Wenn die wichtigsten [421] Ansichten des Verfassers richtig sind und wenn<br />
sein Buch sehr wenig unrichtige oder ungeschickte Erklärungen enthält. (Weiter unten werden<br />
wir sehen, daß wir uns in der Sphäre der Kunst genau so mit annähernder Vollkommenheit<br />
zufrieden geben.) Nach diesen Bemerkungen kann man, ohne starken Widerspruch fürchten zu<br />
müssen, sagen, daß wir uns auch auf dem Gebiet des schönen des wirklichen Lebens damit<br />
zufrieden geben, wenn wir etwas sehr Gutes finden, jedoch nicht mathematische, von allen<br />
kleinen Mängeln freie Vollkommenheit suchen. Fällt etwa jemandem ein zu behaupten, eine<br />
Landschaft sei nicht schön, wenn in ihr an irgendeiner Stelle drei Büsche wachsen, und es wäre<br />
besser, wenn dort zwei oder vier wüchsen Wahrscheinlich ist noch niemand von den Menschen,<br />
die das Meer bewundert haben, auf den Gedanken gekommen, das Meer könnte besser<br />
sein, als es ist; wenn man jedoch das Meer mathematisch streng betrachtet, hat es tatsächlich<br />
Mängel, und der erste Mangel ist der, daß es nicht eben ist, sondern eine gewölbte Oberfläche<br />
hat. Allerdings ist dieser Mangel nicht sichtbar, ihn zeigt uns nicht das Auge, sondern die Berechnungen;<br />
deshalb kann man hinzufügen, daß es lächerlich ist, von einem Mangel, den man<br />
nicht bemerken, sondern von dem man nur wissen kann, auch nur zu reden. So sind die meisten<br />
Mängel des Wirklichkeitsschönen: sie sind unsichtbar, sie sind nicht sinnlich wahrnehmbar, sie<br />
offenbaren sich nur der Untersuchung, nicht aber dem Anschauen. Vergessen wir jedoch nicht,<br />
daß der Schönheitssinn es mit dem Anschauen zu tun hat und nicht mit der Wissenschaft: was<br />
nicht sinnlich wahrnehmbar ist, das existiert für das ästhetische Gefühl nicht. Sind aber tatsächlich<br />
die Mängel des Wirklichkeitsschönen für das Anschauen größtenteils nicht sinnlich wahrnehmbar<br />
Davon überzeugt uns die Erfahrung. Es gibt keinen mit ästhetischem Gefühl begabten<br />
Menschen, dem nicht in der Wirklichkeit tausend Personen, Erscheinungen und Gegenstände<br />
begegnet wären, die ihm makellos schön erschienen. Was ist schon weiter dabei, wenn an<br />
einem schönen Gegenstand für die Anschauung auch einmal Mängel bemerkbar werden Sie<br />
sind wirklich zu [422] unwichtig, wenn der Gegenstand ihrer Ungeachtet weiter hin schön erscheint<br />
– wenn Sie wichtig sind, ist der Gegenstand häßlich und nicht schön. Das Unwichtige<br />
aber ist es nicht wert, daß man überhaupt von ihm spricht. Und tatsächlich schenkt ihm ein ästhetisch<br />
gesunder Mensch keine Aufmerksamkeit. 34 Einem Menschen, der nicht durch das Spe-<br />
34 Im Manuskript ist hier von Nikitenko gestrichen „Wer sich über Nichtigkeiten ärgert und kränkt, zeigt damit,<br />
daß er gereizter Stimmung oder lächerlich überempfindlich ist.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013