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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 193<br />

III. „Die Schönheit des Wirklichkeitsschönen ist vergänglich“ – zugegeben; aber ist sie<br />

deshalb weniger schön Und außerdem ist das nicht immer richtig: die Blume welkt tatsächlich<br />

rasch, aber der Mensch bleibt lange schön; man kann sogar sagen, daß die menschliche<br />

Schönheit gerade so lange dauern, wie es für den Menschen, der an ihr Genuß hat, nötig ist. 32<br />

Es würde vielleicht nicht ganz dem Charakter unserer abstrakten Abhandlung entsprechen,<br />

wenn wir uns auf einen ausführlichen Beweis dieser These einlassen wollten; sagen wir<br />

deshalb nur, daß die Schönheit einer jeden [417] Generation für diese selbe Generation existiert<br />

und existieren soll; und es stört nicht im geringsten die Harmonie, es widerspricht nicht<br />

im geringsten den ästhetischen Bedürfnissen dieser Generation, wenn ihre Schönheit zugleich<br />

mit ihr dahinwelkt – die folgenden werden ihre eigene, neue Schönheit haben, und es besteht<br />

hier für niemanden ein Grund, sich über irgend etwas zu beklagen. Vielleicht wäre es auch<br />

nicht angebracht, sich auf den eingehenden Beweis einzulassen, daß der Wunsch, „nicht zu<br />

altern“, phantastisch ist, daß in Wirklichkeit ein bejahrter Mensch auch ein bejahrter Mensch<br />

sein will, wenn sein Leben nur normal verlaufen ist, und wenn er nicht zu den oberflächlichen<br />

Menschen gehört. Doch das ist auch ohne eingehenden Beweis klar. Wir alle gedenken<br />

„mit Bedauern“ der Kindheit und sagen zuweilen, wir „würden uns gern wieder in jene<br />

glückliche Zeit zurückversetzt sehen“; aber schwerlich dürfte jemand ernstlich einverstanden<br />

sein, tatsächlich wieder zum Kind zu werden, Das gleiche läßt sich auch von dem Bedauern<br />

sagen, daß „die Schönheit unserer Jugend dahin ist“ – diese Worte haben keine reale Bedeutung,<br />

wenn die Jugend auch nur einigermaßen befriedigend verlaufen ist. Es wäre langweilig,<br />

das Erlebte von neuem zu erleben, ebenso wie es langweilig ist, eine Anekdote zum zweitenmal<br />

zu hören, auch wenn sie einem beim erstenmal außerordentlich interessant vorgenommen<br />

ist. Man muß unterscheiden zwischen wirklichen und phantastischen Wünschen,<br />

Scheinwünschen, die auch gar nicht befriedigt werden wollen; hierzu gehört der Scheinwunsch,<br />

daß die Schönheit in der Wirklichkeit nicht dahinwelken möge. „Das Leben strömt<br />

vorwärts und trägt in seinem Dahinfließen die Wirklichkeitsschönheit mit sich fort“, sagen<br />

Hegel und Vischer – das ist richtig, doch zusammen mit dem Leben strömen auch unsere<br />

Wünsche vorwärts, d. h. sie ändern sich inhaltlich, und darum ist das Bedauern darüber, daß<br />

die schöne Erscheinung verschwindet, phantastisch – sie verschwindet, nachdem sie ihre<br />

Aufgabe erfüllt hat, nachdem sie uns heute so viel ästhetischen Genuß bereitet hat, wie der<br />

heutige Tag fassen konnte; morgen ist ein neuer Tag mit neuen Bedürfnissen, und nur ein<br />

neues Schönes wird imstande sein, sie zu befriedigen. Wenn die [418] Schönheit in der Wirklichkeit<br />

unbeweglich und unveränderlich, wenn sie „unsterblich“ wäre, wie dies die Ästhetiker<br />

fordern, würden wir ihrer überdrüssig, würde sie uns anwidern. Der lebendige Mensch<br />

liebt nichts Unbewegliches im Leben; darum sieht er sich niemals satt an der lebendigen<br />

Schönheit und bekommt sehr schnell das tableau vivant über, dem die ausschließlichen Verehrer<br />

der Kunst in ihrer Verachtung der Wirklichkeit vor lebendigen Szenen den Vorzug geben.<br />

Doch nach deren Meinung soll die Schönheit einförmig in ihrer Ewigkeit und nicht nur<br />

ewig sein; deshalb wird gegen das Wirklichkeitsschöne eine neue Anschuldigung erhoben.<br />

IV. „Das Wirklichkeitsschöne ist flüchtig in seiner Schönheit“ – aber hierauf muß man mit<br />

derselben Frage antworten wie vorher: hindert das es etwa daran, zeitweilig schön zu sein Ist<br />

eine Landschaft am Morgen deshalb weniger schön, weil ihre Schönheit mit Sonnenunter-<br />

32 Im Manuskript folgt hier ein von Nikitenko gestrichener Text: „Es ist eine allbekannte Tatsache, daß Menschen,<br />

die normal ineinander verliebt sind, d. h. die sich in annähernd gleichem Alter ineinander verliebt haben<br />

– das heißt zum Beispiel die Frau mit 18 und der Mann mit 25, oder die Frau mit 22 und der Mann mit 30 Jahren<br />

–‚zur selben Zeit altem; ist es nicht lächerlich, ist es nicht dumm, wenn ein fünfzigjähriger Mann ein schönes<br />

Mädchen von 20 Jahren liebt Der sittlich unverdorbene ältere Mann kann wahre Liebe nur für eine Frau in<br />

reiferen Jahren empfinden; ist meine Klage: ‚Mein Schatz wird alt‘, nicht lächerlich, wenn ich selbst alt werde<br />

Es ist komisch, darüber zu trauern, daß ein achtjähriges Mädchen .noch nicht achtzehn ist; es ist komisch, auch<br />

darüber zu trauern, daß eine Frau von 42 Jahren nicht mehr 22 ist.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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