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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 192<br />
erstrangig bezeichnen, wovon sich nur zwei, drei Exemplare finden; alles übrige werden wir<br />
zweitrangig nennen. 30 Und überhaupt muß man sagen, daß der Gedanke, „das Schöne ist in der<br />
Wirklichkeit selten anzutreffen“, auf einer Vermengung der Begriffe „ziemlich“ und „das erste“<br />
beruht; ziemlich majestätische Flüsse gibt es sehr viele, aber der erste unter den majestätischen<br />
Flüssen ist natürlich nur einer; große Feldherren gab es viele, der erste Feldherr der Welt<br />
war einer von ihnen. Die Verfasser von Abhandlungen über Ästhetik im Geiste der herrschenden<br />
Schule argumentieren so: wenn es einen Gegenstand gibt oder geben kann, der höher ist als<br />
der vor mir befindliche, so ist der vor mir befindliche Gegenstand niedrig; die Menschen empfinden<br />
jedoch nicht so. Auch wenn wir wissen, daß der Amazonenstrom majestätischer ist als<br />
die Wolga, halten wir doch die Wolga auch weiterhin für einen majestätischen Fluß. Das philosophische<br />
System, an das sich diese Autoren halten, lehrt, daß wenn ein Gegenstand größer ist<br />
als ein anderer, die Überlegenheit des ersten über den zweiten ein Mangel [416] des zweiten ist;<br />
durchaus nicht: in Wirklichkeit ist ein Mangel etwas positiv Vorhandenes, nicht aber etwas,<br />
was sich aus der Überlegenheit anderer Gegenstände ergibt. Ein Fluß, der an einigen Stellen<br />
einen Fuß tief ist, gilt nicht deswegen als seicht, weil es Flüsse gibt, die viel tiefer sind als er; er<br />
ist seicht ohne jeden Vergleich, seicht an sich, weil er sich nicht für die Schiffahrt eignet; ein<br />
Kanal von dreißig Fuß Tiefe ist im realen Leben nicht seicht, weil er sich für die Schiffahrt<br />
durchaus eignet; es wird niemandem einfallen, ihn seicht zu nennen, obwohl doch jedermann<br />
weiß, daß der Ärmelkanal ihn an Tiefe bei weitem übertrifft. Der abstrakte mathematische Vergleich<br />
ist nicht die Betrachtungsweise des wirklichen Lebens. 31 Nehmen wir an, „Othello“<br />
stände höher als „Macbeth“, oder „Macbeth“ höher als „Othello“ – trotz der Überlegenheit einer<br />
dieser beiden Tragödien über die andere bleiben sie beide schön. Die Vorzüge des „Othello“<br />
können nicht dem „Macbeth“ als Mängel angerechnet werden und umgekehrt. So betrachten<br />
wir die Kunstwerke. Wenn wir auch die schönen Erscheinungen der Wirklichkeit auf gleiche<br />
Weise betrachten, werden wir sehr häufig zugeben müssen, daß die Schönheit einer Erscheinung<br />
makellos ist, obgleich die Schönheit einer anderen sie noch übertrifft. Bezeichnet<br />
denn wirklich irgend jemand die Natur Italiens nicht als schön, obwohl die Natur der Antillen<br />
oder Ostindiens viel reicher ist Aber nur von einem solchen Gesichtspunkt aus, der in den<br />
wirklichen Gefühlen und Urteilen des Menschen keine Bestätigung findet, kann die Ästhetik<br />
behaupten, in der Welt der Wirklichkeit sei die Schönheit eine seltene Erscheinung.<br />
30 Weiter ist im Manuskript von der Hand Nikitenkos die folgende Stelle gestrichen: „Es gibt verschiedene Stufen<br />
der Wirklichkeitsschönheit; aber wenn die höchste Stufe höher ist als die andere, so folgt daraus noch nicht,<br />
daß es auf den niederen Stufen nicht auch wahre und vollkommene Schönheit gäbe. Einen erstklassig reichen<br />
Mann gibt es in Europa nur einmal – das ist ein gewisser Rothschild, von dem fast niemand recht weiß, welcher<br />
Rothschild er ist, der Pariser oder der italienische; aus der Tatsache, daß Rothschild der reichste Mann in Europa<br />
ist, folgt durchaus nicht, daß alle anderen Menschen Europas außer Rothschild arm sind. Und wenn man mit<br />
Rumohr einer Meinung ist, daß Vittoria von Albano die allerschönste Frau von Italien war, muß man doch sagen,<br />
daß Italien nicht von Mißgeburten bevölkert ist, und daß es damals in Rom natürlich eine endlose Menge<br />
von Frauen gab, die auch neben Vittoria durchaus schön erschienen.“<br />
31 Hinter den Worten „des wirklichen Lebens“ sind im Manuskript zwei Stellen gestrichen, die erste von<br />
Nikitenko, die zweite von Tschernyschewski selbst. Die erste Stelle lautet: „Der Vorwurf, den man den Philosophen<br />
macht, ihr Standpunkt sei abstrakt und passe nicht zur Wirklichkeit, ist ein abgenutzter Vorwurf, aber oft<br />
hat er seine Berechtigung; und man kann ihn mit Recht gegen jene ästhetische Auffassung richten, die das<br />
Schöne in der Wirklichkeit nur deshalb für eine seltene Erscheinung hält, weil erstklassige Schönheit eine Seltenheit<br />
ist.“ Die zweite Stelle lautet: „Im wirklichen Leben halten wir gute Dinge gleichermaßen für gut, unabhängig<br />
davon, ob wir nichts gefunden haben, was besser ist, oder ob wir so etwas gefunden haben. Wenn sich in<br />
der Welt ein Gegenstand finden läßt, der besser ist als der, der bei ausgesprochenen Vorzügen keine wesentlichen<br />
ausgesprochenen Mängel hätte, so gibt uns der Vergleich noch nicht das Recht, den weniger glänzenden<br />
der zwei miteinander verglichenen Gegenstände als unbefriedigend zu bezeichnen (und wir bezeichnen ihn im<br />
wirklichen Leben auch nicht so). Diese Regel wird im wirklichen Leben stets eingehalten.“ Außerdem ist für die<br />
dritte Auflage folgender Satz gestrichen: „Denn wenn wir einen Gegenstand X finden, der schöner ist als der<br />
Gegenstand A, hören wir im wirklichen Leben durchaus nicht auf, den Gegenstand A schön zu finden.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013