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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 191<br />
ist das Leben nur für farblose Menschen, die von Gefühlen und Bedürfnissen daherreden, in<br />
Wirklichkeit aber gar nicht fähig sind, irgendwelche besonderen Gefühle und Bedürfnisse zu<br />
haben, außer [415] dem Bedürfnis, sich aufzuspielen. 27 Zum Abschluß wäre es nötig, sich<br />
darüber zu verständigen, was eigentlich Schönheit genannt wird, und die Frage zu untersuchen,<br />
inwiefern weibliche Schönheit eine seltene Erscheinung ist. Aber das würde vielleicht<br />
nicht recht in unsere abstrakte Abhandlung passen; beschränken wir uns daher auf die Bemerkung,<br />
daß 28 fast jede Frau der Mehrheit in der Jugendblüte schön erscheint. Deswegen<br />
ließe sich hier höchstens davon reden, daß die Mehrzahl der Menschen in ihren ästhetischen<br />
Gefühlen wenig wählerisch, nicht aber davon, daß die Schönheit eine seltene Erscheinung ist.<br />
Es gibt durchaus nicht weniger von Angesicht schöne als gute, kluge u. dgl. Menschen. 29<br />
Wie ist nun Raffaels Klage über Mangel an schönen Frauen in Italien, dem klassischen Lande<br />
der Schönheit, zu erklären Sehr einfach: er suchte nach der schönsten Frau, aber die schönste<br />
Frau gibt es natürlich nur einmal in der ganzen Welt – und wo soll man sie finden In seiner<br />
Art Erstrangiges gibt es stets nur sehr wenig, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: wenn<br />
sich viel davon zusammenfindet, werden wir es wieder in Klassen unterteilen und nur das als<br />
dort finden sie mehr als genug sowohl Schlachten als auch Feldzüge, Geplänkel und nächtlichen Alarm. Nur die<br />
Deutschen haben keine Gelegenheit zum Kriegführen. Der kriegerische Geist der Deutschen unterliegt jedoch<br />
gegenwärtig auch starken Zweifeln; aber als sie Epochen kriegerischen Geistes hatten, fehlte es ihnen nicht an<br />
Kriegen. Warum muß man auch gleich Schlachten verlangen, wie Borodino oder <strong>Leipzig</strong> Das echte Verlangen<br />
ist nicht so mäklig-wählerisch; und der Mensch, der auf eine Schlacht von Borodino wartet, um sich in den<br />
Kampf zu stürzen, wird von keinem allzu großen Kampfbedürfnis gequält. Außerdem ist das echte Verlangen<br />
nicht so exklusiv, daß der Mensch für sein Glück unbedingt Schlachten mit gegnerischen Heeren braucht, wenn<br />
er das Bedürfnis hat zu kämpfen: einen solchen Menschen wird jeder hartnäckige und gefahrenreicher Kampf<br />
anziehen; und wenn er keine Gelegenheit hat, sein Leben auf Schlacht-feldern zu verbringen, wird er in gefahrenreich<br />
und schwierigen Unternehmungen anderer Art das Leben finden, das ihm zum Herzen spricht: er wird<br />
zum unternehmungstüchtigen Landwirt, der sich mit dem Grund und Boden herumschlägt, oder zum Spekulanten,<br />
der sich schrecklich riskante Unternehmungen ausdenkt. Mit einem Wort, sein Leben wird, welche Karriere<br />
er auch einschlägt voller Risiko, Aufregungen und Kampf sein.“<br />
Für die dritte Auflage ist der danach folgende Satz der früheren Ausgaben gestrichen: „Das Leben ist so weit<br />
und vielseitig, daß der Mensch in ihm fast immer mehr als genug von allem findet, wonach zu suchen er ein<br />
starkes und echtes Bedürfnis empfindet.“<br />
27 Hinter „aufzuspielen“ standen in den früheren Ausgaben folgende, für die dritte Auflage gestrichenen Zeilen:<br />
„Das kommt daher, daß das Leben des Menschen seinen Geist, seine Richtung und sein Kolorit vom Charakter<br />
des Menschen selbst erhält: vom Menschen hängt nicht ab, was er erlebt, aber der Geist dieser Erlebnisse hängt<br />
von seinem Charakter ab. ‚Wer hat, dem wird gegeben.‘“<br />
28 Dieser Satz steht an Stelle des folgenden im Manuskript durchgestrichenen und von Nikitenko angemerkten<br />
Stückes: „Gewöhnlich bekommt man im Leben zu hören und muß stets in ästhetischen Abhandlungen lesen,<br />
schöne Frauen seien in der Weht sehr selten, ja, genau genommen, gäbe es sie überhaupt nicht. So wird gesagt;<br />
aber schwerlich fühlt irgend jemand in Wirklichkeit so. Der Versuch ist leicht zu machen: man braucht nur<br />
einen jener Leute zu nehmen, die darüber klagen, daß es so wenig schöne Frauen gäbe, und mit ihm den<br />
Newski-Prospekt entlangzugehen, wenn dort alle Welt promeniert. Sie werden dann erleben, daß er Sie alle<br />
Augenblicke mit dem Ellbogen anstößt und sagt: ‚Schauen Sie, wie hübsch sie ist! ... Ach, noch so eine Hübsche!<br />
... Ach, noch eine, sehen Sie nur, sehen Sie nur – die ist aber wirklich schön! usw. usw. Und in einer Viertelstunde<br />
wird er Ihnen nicht weniger als fünfzig oder sechzig schöne Frauen vorführen. Es wäre interessant,<br />
folgendes zu ermitteln: man kann annehmen, daß es in Petersburg etwa 150.000 Frauen gibt, von ihnen sind<br />
etwa 35.000 im Alter von sechzehn bis fünfundzwanzig Jahren; wie viele von diesen 35.000 gelten in ihrem<br />
Kreis als Schönheit Zweifellos einige Tausend, wahrscheinlich 8.000-9.000. Jedenfalls finde ich, wenn ich<br />
einmal in eine Gesellschaft komme, wo zehn oder zwanzig junge Damen und Mädchen versammelt sind, daß<br />
fast stets drei oder vier von ihnen im Rufe stehen, schöne Frauen zu sein. Nein, statt davon zu reden, wie wenig<br />
schöne Frauen es gibt, könnte man eher sagen, daß ihrer zu viel sind.“<br />
29 Die beiden letzten Sätze stehen an Stelle des folgenden in dem Manuskript enthaltenen Textes: „Nein, in<br />
Wirklichkeit verschmähen die Menschen die Schönheit des lebendigen Menschen nicht; eher könnte man ihnen<br />
den Vorwurf machen, sie seien nicht immer unparteiisch und wählerisch genug, wenn sie Jugend, bloße Jugend<br />
an sich, als Schönheit bezeichnen und sich für schöne Mädchen begeistern, deren ganze Schönheit darin besteht,<br />
daß sie neunzehn Jahre alt sind.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013