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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 189<br />

wieweit die dem Schönen in der Wirklichkeit gemachten Vorwürfe berechtigt und wieweit<br />

die aus ihnen gezogenen Schlüsse richtig sind.<br />

I. „Das Naturschöne ist nicht gewollt; schon aus diesem Grunde kann es nicht so schön sein<br />

wie das Kunstschöne, das gewollt geschaffen wird.“ – Die unbelebte Natur denkt tatsächlich<br />

nicht an die Schönheit ihrer Schöpfungen, ebenso wie der Baum nicht daran denkt, ob seine<br />

Früchte wohlschmeckend sind. Trotzdem aber muß man zugeben, daß unsere Kunst bis heute<br />

nichts schaffen konnte, was auch nur mit der Apfelsine oder dem Apfel zu vergleichen wäre,<br />

ganz zu schweigen von den köstlichen Früchten der tropischen [413] Länder. Selbstverständlich<br />

steht eine gewollte Schöpfung höher im Wert als eine nicht gewollte, jedoch nur dann,<br />

wenn die Kräfte der Schöpfer gleich sind. Die Kräfte des Menschen sind aber bedeutend<br />

schwächer als die Kräfte der Natur, seine Arbeit ist außerordentlich grob, ungeschickt und<br />

plump im Vergleich mit der Arbeit der Natur. Deshalb wird auch in den Werken der Kunst<br />

der Vorzug, daß sie gewollt sind, herabgesetzt, und zwar weitgehend herabgesetzt durch die<br />

Schwäche ihrer Ausführung. Dazu kommt, daß es nicht gewollte Schönheit nur in der fühllosen,<br />

unbelebten Natur gibt: der Vogel und das Tier pflegen bereits ihr Äußeres und putzen<br />

sich ständig, fast alle liehen sie Reinlichkeit. Beim Menschen kommt Schönheit selten völlig<br />

nicht gewollt vor: wir alle sind außerordentlich stark um unser Äußeres besorgt. Selbstverständlich<br />

sprechen wir hier nicht von raffinierten Mitteln, die Schönheit zu fälschen, sondern<br />

wir meinen jene ständigen Bemühungen um ein gutes Aussehen, die einen Teil der Volkshy-<br />

„Nehmen wir zum Beispiel das allergewöhnlichste Sujet der Kunstwerke – Liebe und Schönheit. Der Mensch<br />

kann von ideal schönen Frauen träumen; er kann es jedoch nur unter zwei Voraussetzungen: wenn er noch nicht<br />

oder nicht mehr ernsthaft wirklich das Bedürfnis hat zu lieben, sondern wenn seine Gedanken nur phantastisch<br />

darauf gerichtet sind, daß ‚die Liebe das höchste Gut des Lebens‘, daß ‚er ein ungewöhnlicher über all den kläglichen<br />

Menschen stehender Mensch ist‘ (wobei in Wirklichkeit viele von diesen Leuten klüger und edler sind als<br />

er), daß er deshalb ‚anders lieben muß als sie‘, daß er deshalb nur eine ebenso ungewöhnlich schöne Frau lieben<br />

kann, wie er selbst ein ungewöhnlicher Mensch ist.<br />

Das ist die erste Voraussetzung; aber sie genügt noch nicht: es bedarf noch einer zweiten – es muß dazu kommen,<br />

daß dieser Mensch keine Gelegenheit gehabt hat, schöne Frauen, ja nicht einmal hübsche Frauen zu sehen;<br />

andernfalls würde er sich, innerlich leer, wie er ist, sofort bis über die Ohren verlieben und sowohl andern als<br />

auch sich einreden, wie ungewöhnlich glücklich er sei, ein so ‚überirdisches‘ Wesen gefunden zu haben. Aber<br />

all dieses phantastische Geträume von ‚überirdischer Schönheit‘, all diese phantastische Nichtverliebtheit und<br />

Verliebtheit sind blaß, lächerlich und kläglich gegenüber der wirklichen Liebe.<br />

Der wirklich liebende Mensch – und solcher Menschen gibt es sehr viel mehr, als es phantastisch verliebte oder<br />

sich nach Verliebtheit sehnende Menschen gibt – kommt nicht darauf zu fragen, ob es auf der Welt schöne<br />

Frauen gibt, die besser sind als die Frau, die er liebt: die anderen gehen ihn nichts an; er weiß sehr gut, daß die<br />

Frau, die er liebt, ihre Mängel hat – aber was macht ihm das aus Er liebt sie trotzdem, sie ist trotzdem schön<br />

und lieb. Und wenn Sie darangehen, ‚ihm durch Analyse zu beweisen, daß sie nicht die Vollkommenheit selber<br />

ist‘, wird er Ihnen sagen: ‚Ich weiß das besser als Sie; aber wenn ich viele Mängel an ihr sehe, so sehe ich noch<br />

bedeutend mehr, was der Liebe wert ist. Schließlich liebe ich sie so, wie sie ist:<br />

Schönre Mädchen gibts,<br />

Mary, Als dich, Mary mein,<br />

Aber liebere – nein!<br />

<strong>Zur</strong> Vermeidung von Mißverständnissen kann man hinzufügen, daß man als wahre Liebe jene Art von Liebe<br />

bezeichnen muß, die sich in unserer Gesellschaft gewöhnlich im Kreise des Familienlebens entwickelt; seltener<br />

gibt es sie auch im Kreise von Menschen, die durch alte Bekanntschaft oder Bande der Freundschaft miteinander<br />

verbunden sind. Die ewig ‚begeisterten‘ Leute spotten über diese ‚spießige‘ Liebe – was ist da zu machen,<br />

wenn das nicht blendende Gefühl der Eltern- und Gattenliebe oder einfach auch nur der Freundesliebe in Wirklichkeit<br />

viel stärker und, offen gesagt, auch sehr viel leidenschaftlicher ist als die ‚wahnsinnige‘ Liebe, von der<br />

in den ‚Dichtwerken‘ soviel geschrieben wird und von der in den Kreisen junger Leute soviel die Rede ist Ich<br />

will durchaus nicht über diese Art Liebe herfallen, die vorwiegend den Titel Liebe trägt; ich will nur sagen, daß<br />

erstens die echte Liebe dieser Art nichts mit irgendeinem Gedanken an ‚überirdische‘ ‚Vollkommenheit‘ zu tun<br />

hat, und zweitens, daß es andere Arten von Liebe gibt, die viel stärker und viel prosaischer sind als jene Art von<br />

Liebe, wenn man als prosaisch alles bezeichnet, was sich von phantastischen Illusionen freihält.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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