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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 188 haben werden, es zu genießen, wie wir gerne möchten, [411] usw.). Mit einem Wort, offenbar läßt sich nicht die Tatsache bezweifeln, daß unser ästhetisches Gefühl, ebenso wie alle anderen, seine normalen Grenzen hinsichtlich seiner Dauer und Intensität hat, und daß man es im einen wie im anderen Sinn nicht unersättlich oder grenzenlos nennen kann. Ebenso hat es Grenzen – und zwar recht enge –‚ insofern es wählerisch, fein empfindend und anspruchsvoll ist oder, wie es heißt, nach Vollkommenheit dürstet. Wir werden später Gelegenheit haben zu zeigen, wie vieles hinsichtlich seiner Schönheit durchaus nicht Erstklassige das ästhetische Gefühl in der Wirklichkeit befriedigt. Hier wollen wir sagen, daß auch im Bereich der Kunst unser ästhetisches Gefühl eigentlich nicht allzu wählerisch ist. Für irgendeinen einzigen Vorzug vergeben wir einem Kunstwerk hunderte Mängel; wir bemerken sie nicht einmal, wenn sie nur nicht allzu abstoßend sind. Es genügt zum Beispiel auf die Mehrzahl der Werke der römischen Dichtung hinzuweisen. Ohne Begeisterung Horaz, Virgil oder Ovid lesen kann nur jemand, der kein ästhetisches Gefühl hat. Doch wieviel schwache Seiten haben diese Dichter! Genau genommen ist bei ihnen alles schwach außer einem – der Ausgestaltung der Sprache und der Entwicklung der Gedanken. Ein Inhalt ist bei ihnen entweder überhaupt nicht vorhanden oder er ist völlig unbedeutend; sie haben keine Selbständigkeit; sie haben keine Frische; sie haben keine Einfachheit; bei Virgil und Horaz finden wir sogar fast nirgends Aufrichtigkeit und echte Begeisterung. Aber mag die Kritik uns auch alle diese Mängel aufzeigen – sie fügt auch hinzu, daß die Form bei diesen Dichtern zu hoher Vollkommenheit gelangt ist, und unserem ästhetischen Gefühl genügt dieser eine Tropfen des Guten, um befriedigt zu sein und zu genießen. Dabei aber weisen alle diese Dichter auch in der Ausgestaltung der Form bedeutende Mängel auf: Ovid und Virgil sind fast stets zu breit; sehr häufig sind auch die Horazschen Oden zu breit; die Monotonie ist bei allen drei Dichtern außerordentlich groß; außerordentlich unangenehm fällt oft ihre Künstlichkeit und Gezwungenheit auf. Aber das macht nichts, es bleibt doch etwas Schönes an ihnen, und wir haben Genuß. Als völligen Gegensatz zu diesen Dichtern der äußeren Auf-[412]machung kann man beispielsweise die Volksdichtung anführen. Wie auch immer die ursprüngliche Form der Volkslieder sein mag, wir übernehmen sie fast stets entstellt, umgeändert oder zerstückelt; auch ihre Monotonie ist sehr groß; schließlich haben alle Volkslieder mechanische Methoden, lassen gemeinsame Triebfedern erkennen, ohne deren Hilfe sie niemals ihre Themen entwikkeln; doch die Volksdichtung hat sehr viel Frische und Einfachheit – und das genügt unserem ästhetischen Gefühl, um sich für die Volksdichtung zu begeistern. Mit einem Wort, wie jedes andere gesunde Gefühl, wie jedes echte Bedürfnis strebt auch das ästhetische Gefühl mehr danach, befriedigt zu werden, als daß es übertriebene Ansprüche geltend macht; es freut sich seiner Natur nach an der Befriedigung und ist unzufrieden, wenn es ihm an Nahrung fehlt, und ist deshalb bereit, mit dem ersten annehmbaren Gegenstand vorliebzunehmen. Die Anspruchslosigkeit des ästhetischen Gefühls zeigt sich auch darin, daß es, obwohl es erstklassige Werke gibt, durchaus auch die zweitklassigen nicht verschmäht. Die Bilder Raffaels veranlassen uns nicht, die Werke von Greuze schlecht zu finden; obwohl wir Shakespeare besitzen, lesen wir immer wieder mit Genuß auch die Werke zweitrangiger, ja sogar drittrangiger Dichter. Das ästhetische Gefühl sucht das Gute, aber nicht das phantastisch Vollkommene. Deshalb würden wir uns, selbst wenn das Wirklichkeitsschöne sehr viele bedeutende Mängel hätte, dennoch mit ihm zufrieden geben 24 . Sehen wir aber näher zu, 24 Dieser ganze Absatz bis zu den Worten „dennoch mit ihm zufrieden geben“ ist neu geschrieben, ebenso die zwei vorhergehenden Absätze ganz und die zweite Hälfte des davorliegenden Absatzes, angefangen mit den Worten „Die Begierden werden durch Träumereien...“, sie stehen an Stelle eines Textstückes, an dessen Rand Nikitenko im Manuskript geschrieben hat: „Zuviel über Liebe“, Wir führen hier den gestrichenen Text vollinhaltlich an: OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 189 wieweit die dem Schönen in der Wirklichkeit gemachten Vorwürfe berechtigt und wieweit die aus ihnen gezogenen Schlüsse richtig sind. I. „Das Naturschöne ist nicht gewollt; schon aus diesem Grunde kann es nicht so schön sein wie das Kunstschöne, das gewollt geschaffen wird.“ – Die unbelebte Natur denkt tatsächlich nicht an die Schönheit ihrer Schöpfungen, ebenso wie der Baum nicht daran denkt, ob seine Früchte wohlschmeckend sind. Trotzdem aber muß man zugeben, daß unsere Kunst bis heute nichts schaffen konnte, was auch nur mit der Apfelsine oder dem Apfel zu vergleichen wäre, ganz zu schweigen von den köstlichen Früchten der tropischen [413] Länder. Selbstverständlich steht eine gewollte Schöpfung höher im Wert als eine nicht gewollte, jedoch nur dann, wenn die Kräfte der Schöpfer gleich sind. Die Kräfte des Menschen sind aber bedeutend schwächer als die Kräfte der Natur, seine Arbeit ist außerordentlich grob, ungeschickt und plump im Vergleich mit der Arbeit der Natur. Deshalb wird auch in den Werken der Kunst der Vorzug, daß sie gewollt sind, herabgesetzt, und zwar weitgehend herabgesetzt durch die Schwäche ihrer Ausführung. Dazu kommt, daß es nicht gewollte Schönheit nur in der fühllosen, unbelebten Natur gibt: der Vogel und das Tier pflegen bereits ihr Äußeres und putzen sich ständig, fast alle liehen sie Reinlichkeit. Beim Menschen kommt Schönheit selten völlig nicht gewollt vor: wir alle sind außerordentlich stark um unser Äußeres besorgt. Selbstverständlich sprechen wir hier nicht von raffinierten Mitteln, die Schönheit zu fälschen, sondern wir meinen jene ständigen Bemühungen um ein gutes Aussehen, die einen Teil der Volkshy- „Nehmen wir zum Beispiel das allergewöhnlichste Sujet der Kunstwerke – Liebe und Schönheit. Der Mensch kann von ideal schönen Frauen träumen; er kann es jedoch nur unter zwei Voraussetzungen: wenn er noch nicht oder nicht mehr ernsthaft wirklich das Bedürfnis hat zu lieben, sondern wenn seine Gedanken nur phantastisch darauf gerichtet sind, daß ‚die Liebe das höchste Gut des Lebens‘, daß ‚er ein ungewöhnlicher über all den kläglichen Menschen stehender Mensch ist‘ (wobei in Wirklichkeit viele von diesen Leuten klüger und edler sind als er), daß er deshalb ‚anders lieben muß als sie‘, daß er deshalb nur eine ebenso ungewöhnlich schöne Frau lieben kann, wie er selbst ein ungewöhnlicher Mensch ist. Das ist die erste Voraussetzung; aber sie genügt noch nicht: es bedarf noch einer zweiten – es muß dazu kommen, daß dieser Mensch keine Gelegenheit gehabt hat, schöne Frauen, ja nicht einmal hübsche Frauen zu sehen; andernfalls würde er sich, innerlich leer, wie er ist, sofort bis über die Ohren verlieben und sowohl andern als auch sich einreden, wie ungewöhnlich glücklich er sei, ein so ‚überirdisches‘ Wesen gefunden zu haben. Aber all dieses phantastische Geträume von ‚überirdischer Schönheit‘, all diese phantastische Nichtverliebtheit und Verliebtheit sind blaß, lächerlich und kläglich gegenüber der wirklichen Liebe. Der wirklich liebende Mensch – und solcher Menschen gibt es sehr viel mehr, als es phantastisch verliebte oder sich nach Verliebtheit sehnende Menschen gibt – kommt nicht darauf zu fragen, ob es auf der Welt schöne Frauen gibt, die besser sind als die Frau, die er liebt: die anderen gehen ihn nichts an; er weiß sehr gut, daß die Frau, die er liebt, ihre Mängel hat – aber was macht ihm das aus Er liebt sie trotzdem, sie ist trotzdem schön und lieb. Und wenn Sie darangehen, ‚ihm durch Analyse zu beweisen, daß sie nicht die Vollkommenheit selber ist‘, wird er Ihnen sagen: ‚Ich weiß das besser als Sie; aber wenn ich viele Mängel an ihr sehe, so sehe ich noch bedeutend mehr, was der Liebe wert ist. Schließlich liebe ich sie so, wie sie ist: Schönre Mädchen gibts, Mary, Als dich, Mary mein, Aber liebere – nein! Zur Vermeidung von Mißverständnissen kann man hinzufügen, daß man als wahre Liebe jene Art von Liebe bezeichnen muß, die sich in unserer Gesellschaft gewöhnlich im Kreise des Familienlebens entwickelt; seltener gibt es sie auch im Kreise von Menschen, die durch alte Bekanntschaft oder Bande der Freundschaft miteinander verbunden sind. Die ewig ‚begeisterten‘ Leute spotten über diese ‚spießige‘ Liebe – was ist da zu machen, wenn das nicht blendende Gefühl der Eltern- und Gattenliebe oder einfach auch nur der Freundesliebe in Wirklichkeit viel stärker und, offen gesagt, auch sehr viel leidenschaftlicher ist als die ‚wahnsinnige‘ Liebe, von der in den ‚Dichtwerken‘ soviel geschrieben wird und von der in den Kreisen junger Leute soviel die Rede ist Ich will durchaus nicht über diese Art Liebe herfallen, die vorwiegend den Titel Liebe trägt; ich will nur sagen, daß erstens die echte Liebe dieser Art nichts mit irgendeinem Gedanken an ‚überirdische‘ ‚Vollkommenheit‘ zu tun hat, und zweitens, daß es andere Arten von Liebe gibt, die viel stärker und viel prosaischer sind als jene Art von Liebe, wenn man als prosaisch alles bezeichnet, was sich von phantastischen Illusionen freihält.“ OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 188<br />

haben werden, es zu genießen, wie wir gerne möchten, [411] usw.). Mit einem Wort, offenbar<br />

läßt sich nicht die Tatsache bezweifeln, daß unser ästhetisches Gefühl, ebenso wie alle anderen,<br />

seine normalen Grenzen hinsichtlich seiner Dauer und Intensität hat, und daß man es im<br />

einen wie im anderen Sinn nicht unersättlich oder grenzenlos nennen kann.<br />

Ebenso hat es Grenzen – und zwar recht enge –‚ insofern es wählerisch, fein empfindend und<br />

anspruchsvoll ist oder, wie es heißt, nach Vollkommenheit dürstet. Wir werden später Gelegenheit<br />

haben zu zeigen, wie vieles hinsichtlich seiner Schönheit durchaus nicht Erstklassige<br />

das ästhetische Gefühl in der Wirklichkeit befriedigt. Hier wollen wir sagen, daß auch im<br />

Bereich der Kunst unser ästhetisches Gefühl eigentlich nicht allzu wählerisch ist. Für irgendeinen<br />

einzigen Vorzug vergeben wir einem Kunstwerk hunderte Mängel; wir bemerken sie<br />

nicht einmal, wenn sie nur nicht allzu abstoßend sind. Es genügt zum Beispiel auf die Mehrzahl<br />

der Werke der römischen Dichtung hinzuweisen. Ohne Begeisterung Horaz, Virgil oder<br />

Ovid lesen kann nur jemand, der kein ästhetisches Gefühl hat. Doch wieviel schwache Seiten<br />

haben diese Dichter! Genau genommen ist bei ihnen alles schwach außer einem – der Ausgestaltung<br />

der Sprache und der Entwicklung der Gedanken. Ein Inhalt ist bei ihnen entweder<br />

überhaupt nicht vorhanden oder er ist völlig unbedeutend; sie haben keine Selbständigkeit;<br />

sie haben keine Frische; sie haben keine Einfachheit; bei Virgil und Horaz finden wir sogar<br />

fast nirgends Aufrichtigkeit und echte Begeisterung. Aber mag die Kritik uns auch alle diese<br />

Mängel aufzeigen – sie fügt auch hinzu, daß die Form bei diesen Dichtern zu hoher Vollkommenheit<br />

gelangt ist, und unserem ästhetischen Gefühl genügt dieser eine Tropfen des<br />

Guten, um befriedigt zu sein und zu genießen. Dabei aber weisen alle diese Dichter auch in<br />

der Ausgestaltung der Form bedeutende Mängel auf: Ovid und Virgil sind fast stets zu breit;<br />

sehr häufig sind auch die Horazschen Oden zu breit; die Monotonie ist bei allen drei Dichtern<br />

außerordentlich groß; außerordentlich unangenehm fällt oft ihre Künstlichkeit und Gezwungenheit<br />

auf. Aber das macht nichts, es bleibt doch etwas Schönes an ihnen, und wir haben<br />

Genuß. Als völligen Gegensatz zu diesen Dichtern der äußeren Auf-[412]machung kann man<br />

beispielsweise die Volksdichtung anführen. Wie auch immer die ursprüngliche Form der<br />

Volkslieder sein mag, wir übernehmen sie fast stets entstellt, umgeändert oder zerstückelt;<br />

auch ihre Monotonie ist sehr groß; schließlich haben alle Volkslieder mechanische Methoden,<br />

lassen gemeinsame Triebfedern erkennen, ohne deren Hilfe sie niemals ihre Themen entwikkeln;<br />

doch die Volksdichtung hat sehr viel Frische und Einfachheit – und das genügt unserem<br />

ästhetischen Gefühl, um sich für die Volksdichtung zu begeistern.<br />

Mit einem Wort, wie jedes andere gesunde Gefühl, wie jedes echte Bedürfnis strebt auch das<br />

ästhetische Gefühl mehr danach, befriedigt zu werden, als daß es übertriebene Ansprüche<br />

geltend macht; es freut sich seiner Natur nach an der Befriedigung und ist unzufrieden, wenn<br />

es ihm an Nahrung fehlt, und ist deshalb bereit, mit dem ersten annehmbaren Gegenstand<br />

vorliebzunehmen. Die Anspruchslosigkeit des ästhetischen Gefühls zeigt sich auch darin, daß<br />

es, obwohl es erstklassige Werke gibt, durchaus auch die zweitklassigen nicht verschmäht.<br />

Die Bilder Raffaels veranlassen uns nicht, die Werke von Greuze schlecht zu finden; obwohl<br />

wir Shakespeare besitzen, lesen wir immer wieder mit Genuß auch die Werke zweitrangiger,<br />

ja sogar drittrangiger Dichter. Das ästhetische Gefühl sucht das Gute, aber nicht das phantastisch<br />

Vollkommene. Deshalb würden wir uns, selbst wenn das Wirklichkeitsschöne sehr<br />

viele bedeutende Mängel hätte, dennoch mit ihm zufrieden geben 24 . Sehen wir aber näher zu,<br />

24 Dieser ganze Absatz bis zu den Worten „dennoch mit ihm zufrieden geben“ ist neu geschrieben, ebenso die<br />

zwei vorhergehenden Absätze ganz und die zweite Hälfte des davorliegenden Absatzes, angefangen mit den<br />

Worten „Die Begierden werden durch Träumereien...“, sie stehen an Stelle eines Textstückes, an dessen Rand<br />

Nikitenko im Manuskript geschrieben hat: „Zuviel über Liebe“, Wir führen hier den gestrichenen Text vollinhaltlich<br />

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OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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