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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 187<br />
Phantasie wird überhaupt nur dann unsrer Herr, wenn wir in der Wirklichkeit zu armselig<br />
dran sind. [409] Wer auf nackten Brettern liegt, dem kommt es zuweilen in den Sinn, von<br />
einem prächtigen Lager zu träumen, von einer Bettstatt aus unerhört kostbarem Holz, von<br />
einem Federbett aus Eiderdaunen, von Kissen mit Brabanter Spitzen, von einem Bettvorhang<br />
aus einem unvorstellbar schönen Lyoner Stoff – wird aber etwa ein gesunder Mensch von<br />
alledem träumen, wenn er ein zwar nicht üppiges, doch hinreichend weiches und bequemes<br />
Bett hat „Wer hat, braucht nicht zu suchen.“ Wer in der Tundra Sibiriens oder den Salzsteppen<br />
jenseits der Wolga aufgewachsen ist, der kann von Zaubergärten mit überirdischen Bäumen,<br />
mit Zweigen aus Korallen, Blättern aus Smaragden und Früchten aus Rubinen träumen;<br />
aber wenn der Träumer, sagen wir, ins Kursker Gouvernement versetzt wird und dort die<br />
Möglichkeit bekommt, nach Herzenslust in einem nicht gerade reichen, aber erträglichen<br />
Obstgarten mit Apfel-, Birn- und Sauerkirschenbäumen und dichtbelaubten Lindenalleen<br />
spazierenzugehen, wird er wahrscheinlich nicht nur die Gärten aus „Tausendundeiner Nacht“<br />
vergessen, sondern auch die Zitronenhaine Spaniens. Die Einbildungskraft baut ihre Luftschlösser<br />
dann, wenn in Wirklichkeit nicht nur kein gutes Haus, sondern nicht einmal eine<br />
erträgliche Hütte vorhanden ist. Sie beginnt ihr Spiel dann, wenn die Sinne unbeschäftigt<br />
sind; ein ärmliches Leben in der Wirklichkeit ist die Quelle des Lebens in der Phantasie.<br />
Doch kaum wird die Wirklichkeit einigermaßen erträglich, so erscheinen uns mit ihr verglichen<br />
alle Träume der Einbildung langweilig und blaß. Die Meinung, „das menschliche Verlangen“<br />
sei „grenzenlos“, ist falsch in dem Sinne, in dem sie gewöhnlich aufgefaßt wird, in<br />
dem Sinne nämlich, daß „keine Wirklichkeit es befriedigen kann“, im Gegenteil, der Mensch<br />
gibt sich durchaus nicht nur „mit dem Besten, was es in der Wirklichkeit geben kann“, zufrieden,<br />
sondern schon mit einer recht mittelmäßigen Wirklichkeit. Man muß zu unterscheiden<br />
wissen zwischen dem, was wirklich gefühlt, und dem, was nur gesagt wird. Die Begierden<br />
werden durch Träumereien nur dann bis zu fieberhafter Spannung aufgereizt, wenn es<br />
ihnen völlig an gesunder, sei es auch noch so einfacher Nahrung fehlt. Das ist eine Tatsache,<br />
die durch die [410] ganze Geschichte der Menschheit bewiesen wird, und die jeder, der lebt<br />
und sich beobachtet, an sich selbst erfahren hat. Sie stellt einen Sonderfall des allgemeinen<br />
Gesetzes des menschlichen Lebens dar, daß eine Leidenschaft sich nur dann anormal entwikkelt,<br />
wenn sich der von ihr erfaßte Mensch in einer anormalen Lage befindet und nur wenn<br />
das natürliche und im Grunde genommen recht ruhige Bedürfnis, dem diese oder jene Leidenschaft<br />
entspringt, allzu lange nicht die entsprechende – ruhige und durchaus nicht titanische<br />
– Befriedigung gefunden hat. Es steht außer Zweifel, daß der Organismus des Menschen<br />
titanische Triebe und Befriedigungen nicht verlangt und nicht vertragen kann; außer Zweifel<br />
steht auch, daß beim gesunden Menschen die Triebe mit den Kräften des Organismus in Einklang<br />
stehen. Gehen wir von diesem allgemeinen Punkt zu einem anderen, spezielleren über.<br />
Bekanntlich werden unsere Sinne rasch müde und übersättigt, d. h. befriedigt. Das trifft nicht<br />
nur für die niederen Sinne zu (Gefühl, Geruch, Geschmack), sondern auch für die höheren –<br />
Gesicht und Gehör. Mit dem Gesichts- und dem Gehörsinn ist das ästhetische Empfinden unlöslich<br />
verbunden und kann ohne sie nicht gedacht werden. Wenn ein Mensch aus Übermüdung<br />
die Lust verliert, sich etwas Schönes anzusehen, muß er notwendig auch das Bedürfnis<br />
verlieren, dieses Schöne ästhetisch zu genießen. Und wenn ein Mensch nicht einen ganzen<br />
Monat lang, ohne zu ermüden, täglich ein Gemälde betrachten kann, auch wenn es von Raffael<br />
ist, so besteht kein Zweifel, daß nicht nur seine Augen, sondern auch sein ästhetisches Empfinden<br />
übersättigt, für einige Zeit befriedigt ist. Was für die Dauer des Genusses gilt, läßt sich<br />
auch über seine Intensität sagen. Bei normaler Befriedigung hat die Stärke des ästhetischen<br />
Genusses ihre Grenzen. Wenn sie diese zuweilen überschreitet, so ist dies die Folge nicht einer<br />
inneren und natürlichen Entwicklung, sondern besonderer, mehr oder weniger zufälliger und<br />
anormaler Umstände (so zum Beispiel erfreuen wir uns an etwas Schönem besonders hingerissen,<br />
wenn wir wissen, daß wir uns bald von ihm trennen müssen, daß wir nicht so viel Zeit<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013