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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 186<br />
dem Großen, was sie taten, mit Aus- und Ankleiden, Essen, Trinken, Katarrh usw. Zeit verloren. Dies Verdämmern<br />
des Kleinen und Störenden genügt jedoch nicht; trotz demselben drängen sich der irgend aufmerksameren<br />
Betrachtung auch am scheinbar schönsten Gegenstande sehr sichtbare kleinere und größere Bildungsfehler auf.<br />
Wären also z. B. an einer menschlichen Gestalt auch alle die störenden Zufälligkeiten der Oberfläche nicht, die<br />
zu einem guten Teile schon im einfachen Sehen das Auge verzehrt, so drängt sich doch in den Grundformen<br />
irgendeine Verletzung des Verhältnisses überall auf. Man sehe nur ein Gipsmodell über die Natur abgezogen,<br />
ganze Figur oder Maske, so wird dies schlagend einleuchten. Rumohr hat in der einleitenden Abhandlung zu<br />
seinen „Italienischen Forschungen“ bei aller Feinheit des praktischen Kunstsinns eine ungemeine Verwirrung in<br />
allen hierhergehörigen Begriffen angerichtet... Rumohr will den falschen Idealismus der Kunst, welcher die<br />
Natur in ihren reinen und bleibenden Formen verbessern will, in seiner Nichtigkeit aufweisen. Gegen ihn führt<br />
er mit vollem Rechte und echter Wärme des Naturgefühls aus, daß die Kunst die unveränderlichen Naturformen<br />
nicht verrücken dürfe, daß diese notwendig und schlechthin für sie gegeben seien, daß verfehlte Formen, Abweichungen<br />
von den Naturgesetzen jederzeit als etwas „Ungetümliches, Leeres oder Schauderhaftes“ erscheinen.<br />
Allein nun fragt es sich erst, ob die Grundformen, ihre ewige Geltung natürlich vorausgesetzt, sich in der<br />
Natur auch wirklich in reiner Ausbildung vorfinden. Darauf antwortet Rumohr, man müsse nur wohl unterscheiden,<br />
was Natur sei. Nicht das Einzelne, was der Zufall biete, z. B. nicht das einzelne Modell sei die Natur,<br />
sondern die Gesamtheit der lebendigen Formen, die „Gesamtheit des Erzeugten, ja die zeugende Grundkraft<br />
selbst“. An sie müsse sich der Künstler mit absichtsloser Wärme hingeben und unabhängig von einzelnen Vorbildern<br />
immer umherschauen. Ganz gut... Allein Rumohr widerspricht sich selbst und gerät in Vorstellungen,<br />
aus welchen man geradezu den Naturalismus, den er doch wie jenen Idealismus verfolgt, ableiten könnte. Sein<br />
Satz, daß „schon die Natur durch ihre Gestalten alles unübertrefflich ausdrücke“, wird nämlich ganz gefährlich,<br />
wenn er gegen die obige Unterscheidung geradezu auch auf die einzelne Erscheinung angewandt, wenn behauptet<br />
wird, es gäbe vollkommene Modelle, wie denn jene Vittoria von Albano „alle Kunstwerke Roms übertroffen,<br />
den nachbildenden Künstlern durchaus unerreichbar geblie-[408]ben sein soll“. Darauf ließen wir es ohne<br />
Furcht ankommen, daß keiner der Künstler, welche dieses Modell benützten, alle Formen brauchen konnte, wie<br />
er sie fand, denn diese Vittoria war eine einzelne Schönheit, und das genügt. Das Individuum kann nicht absolut<br />
sein, mehr brauchen wir nicht zu wissen. Wären aber auch alle Grundformen an ihr vollkommen gewesen, so<br />
war Blut, Wärme, Gärung des wirklichen Lebens mit all den trübenden Einzelheiten, die sie notwendig auf der<br />
Oberfläche absetzen, hinreichend, sie unendlich hinter die hohen Kunstwerke zu setzen, welche nur scheinbar<br />
Blut, Wärme, Hautleben usw. haben...<br />
Es liegt also ein Gegenstand vor, der zu den seltenen Erscheinungen der Schönheit gehört. Dieser Gegenstand<br />
ist, wie die nähere Betrachtung zeigt, nicht wahrhaft schön, sondern nur dem Schönen näher, vom störenden<br />
Zufall freier als andere. 23<br />
Bevor wir die einzelnen Vorwürfe, die dem Wirklichkeitsschönen gemacht werden, der Kritik<br />
unterwerfen, können wir kühnlich sagen, daß es wahrhaft schön ist und den gesunden<br />
Menschen vollauf befriedigt, trotz aller seiner Mängel, so groß sie auch sein mögen. Gewiß,<br />
eine müßige Phantasie kann bei allem sagen: „Dies ist nicht richtig, hier fehlt etwas, das ist<br />
überflüssig“; aber eine so entwickelte Phantasie, die mit nichts zufrieden ist, muß als krankhaft<br />
betrachtet werden. Der gesunde Mensch begegnet in der Wirklichkeit sehr vielen Gegenständen<br />
und Erscheinungen, bei deren Anblick es ihm nicht in den Sinn kommt zu wünschen,<br />
daß sie nicht so sein sollten, wie sie sind, oder daß sie besser sein sollten. Die Meinung, der<br />
Mensch brauche unbedingt „Vollkommenheit“, ist phantastisch, wenn man unter „Vollkommenheit“<br />
eine Art des Gegenstandes versteht, die sämtliche möglichen Vorzüge enthält und<br />
aller. Mängel bar ist, die die Phantasie eines Menschen mit kaltem oder blasiertem Herzen<br />
vor lauter Nichtstun an dem Gegenstand ausfindig machen kann. „Vollkommenheit“ ist für<br />
mich das, was mich in seiner Art vollauf befriedigt. Solcher Erscheinungen aber sieht der<br />
gesunde Mensch in der Wirklichkeit sehr viele. Wenn der Mensch ein leeres Herz hat, kann<br />
er seiner Einbildungskraft die Zügel schießen lassen; aber sobald auch nur eine einigermaßen<br />
zufriedenstellende Wirklichkeit vorhanden ist, sind der Phantasie die Flügel gebunden. Die<br />
23 Hinter dem Zitat aus Vischer heißt es im Manuskript weiter:<br />
„Mein Auszug ist lang, vielleicht sogar zu lang. Aber ich mußte die Kritik am Naturschönen in aller Vollständigkeit<br />
vorführen, um dem Vorwurf zu entgehen, ich hätte ‚die wichtigsten Mängel des Wirklichkeitsschönen‘<br />
weggelassen, vergessen oder nicht plastisch genug vorgeführt, – diesem Vorwurf würde ich immer ausgesetzt<br />
sein, wenn ich selbst die Gedanken formulieren wollte, die mir unrichtig erscheinen und deren Unrichtigkeit ich<br />
aufdecken möchte.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013