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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 184<br />
Die Hegelsche Ästhetik löst sie folgendermaßen: das Schöne in der objektiven Wirklichkeit<br />
hat Mängel, die seine Schönheit zerstören, und unsere Phantasie ist deshalb genötigt, das in<br />
der objektiven Wirklichkeit vorgefundene Schöne umzugestalten, um es, nachdem sie es von<br />
den Mängeln befreit hat, die von seiner realen Existenz untrennbar sind, wahrhaft schön zu<br />
machen. Vischer geht bei Analyse der Mängel des objektiven Schönen vollständiger und<br />
schärfer vor als andere Ästhetiker. Deswegen muß seine Analyse auch der Kritik unterzogen<br />
werden. Um dem Vorwurf zu entgehen, ich hätte die Mängel, die die deutschen Ästhetiker<br />
dem objektiven Schönen vorwerfen, absichtlich abgeschwächt, muß ich hier die Vischersche<br />
Kritik des Schönen in der Wirklichkeit wörtlich anführen. (Ästhetik, II. Teil, S. 299 ff.) *<br />
Dadurch, daß die Schönheit auch auf dem Schauplatze, wo sie am meisten verbürgt scheint (d. h. im Menschen;<br />
die historischen Ereignisse vernichten oft vieles Schöne; beispielsweise hat, sagt Vischer, die Reformation die<br />
fröhliche Ungebundenheit und bunte Vielfalt des deutschen Lebens im 13.-15. Jahrhundert vernichtet), in einem<br />
so unsteten Verhältnis zu den Zwecken der geschichtlichen Bewegung steht, drängt sich die innere Haltlosigkeit<br />
dieser ganzen Existenzform des Schönen jeder Beobachtung auf. Überhaupt aber leuchtet zunächst ein, daß die<br />
in § 234 vorausgesetzte Gunst des Zufalls selten ist. (§ 234 besagt: zum Sein der Schönheit gehört, daß sich bei<br />
der Verwirklichung des [404] Schönen kein störender Zufall einmischt. Es ist das Wesen des Zufalls, daß er sein<br />
und nicht sein oder auch anders sein kann; folglich kann der störende Zufall auch nicht im Gegenstande liegen.<br />
Infolgedessen scheint es so, daß es neben häßlichen Individuen auch wahrhaft schöne geben muß.) Außerdem ist<br />
das Naturschöne, eben weil die unmittelbare Lebendigkeit der Vorzug alles Naturschönen bleiben wird, eben<br />
durch diese höchst flüchtig, was darin seinen Grund hat, daß alles Naturschöne als solches nicht gewollt ist,<br />
sondern sich nur mitergibt, während die allgemeinen Lebenszwecke verfolgt werden... Die Silberblicke des<br />
Schönen in der Geschichte sind daher wirklich selten, und so sind sie es in der ganzen Welt des Naturschönen.<br />
Raffael klagt in dem bekannten Briefe mitten im Lande der Schönheit über carestia di helle donne ** , und nicht<br />
alle Tage findet sich in Rom ein Modell wie die Vittoria. von Albano zur Zeit Rumohrs. „Das letzte Produkt der<br />
sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch. Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren<br />
Ideen gar viele Bedingungen widerstreben.“ (Goethe: Winkelmann.) Jedes Lebende hat unzählige Feinde. Der<br />
Kampf mit ihnen kann erhaben oder komisch sein; aber der Zufall, wo sich in der gegebenen Einheit der vorliegenden<br />
Anschauung das Häßliche in dieses oder jenes aufhebt, ist ebenfalls selten. Wir stehen im Leben und<br />
seinem unendlichen Zusammenhang. Das Naturschöne ist daher wesentlich lebendig; aber es wird in jenem<br />
Zusammenhang von allen Seiten gestoßen und gerieben, denn die Natur sorgt für alles zugleich und ist auf Erhaltung,<br />
aber nicht auf Schönheit als solche bedacht... Sorgt die Natur für Erhaltung und nicht für Schönheit als<br />
solche, so liegt ihr auch nichts daran, das seltene Schöne, dem sie Dasein gönnt, festzuhalten; das Leben geht<br />
weiter und fragt nicht nach dem Untergang der Gestalt oder erhält sie nur notdürftig. „Die Natur arbeitet auf<br />
Leben und Dasein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres Geschöpfes, unbekümmert, ob es schön oder häßlich<br />
erscheine. Eine Gestalt, die von Geburt an schön zu sein bestimmt war, kann durch irgendeinen Zufall in einem<br />
Teile verletzt werden; sogleich leiden andere Teile mit. Denn nun braucht die Natur Kräfte, den verletzten Teil<br />
wiederherzustellen, und so wird den übrigen etwas entzogen, wodurch ihre Entwicklung durchaus gestört werden<br />
muß. Das Geschöpf wird nicht mehr, was es sein sollte, sondern was es sein kann.“ (Goethe: Anmerkungen<br />
zu Diderot.) Merklicher oder unmerklicher gehen die Verletzungen fort, bis das Ganze aufgerieben ist. Rasche<br />
Vergänglichkeit ist die Klage, die alles Naturschöne umschwebt. Nicht nur die schöne Beleuchtung einer Landschaft,<br />
auch die Blüte des organischen Lebens ist ein Moment. „Genau genommen kann man sagen, es sei nur<br />
ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei.“ „Nur äußerst kurze Zeit kann der menschliche Körper<br />
schön genannt werden...“ (Goethe.) Aus der verwelkten Jugendblüte erhebt sich zwar die höhere Schönheit<br />
des Charakters, der in seinen physiognomischen .Zügen und seinen Handlungen vor die Anschauung tritt. Allein<br />
auch diese Schönheit ist flüch-[405]tig, denn dem Charakter ist es um den sittlichen Zweck und nicht darum zu<br />
tun, wie seine Gestalt und Bewegung dabei aussieht... Bald ist die Persönlichkeit vom vollen Bewußtsein ihres<br />
sittlichen Zweckes erfüllt, erscheint ganz als sie selbst und ist schön im tiefsten Sinne des Wortes; bald aber<br />
treibt sie etwas, was nur mittelbar zum Zwecke gehört, und wobei ihr Ausdruck nicht ihren wahren Gehalt zeigt,<br />
bald gar etwas, was ihr nur die Not des Lebens aufzwängt, wobei unter Gleichgültigkeit oder Verdrießlichkeit<br />
aller höhere Ausdruck verschüttet liegt. So ist es aber in allen Bewegungen, Tätigkeiten, mögen sie dem sittlichen<br />
Gebiete angehören oder nicht... Diese Gruppe kämpfender Krieger bewegt und baut sich, als wäre sie vom<br />
flammenden Kriegsgott befeuert, aber im nächsten Augenblick ist sie zerstoben oder werden die Bewegungen<br />
* In der Wiedergabe des Textes von Vischer schließen wir uns, Auswahl, Anordnung, Kürzungen etc. betrifft,<br />
eng an die Redaktion Tschernyschewskis an. Die betreffenden Stellen sind den §§ 379 und 380 (Die allgemeine<br />
Phantasie), S. 299-307, des angegebenen Werkes entnommen. Die Rechtschreibung wurde dabei der heute üblichen<br />
angepaßt. Die Red.<br />
** Mangel an schönen Frauen. Die Red.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013