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15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 182 digkeit beruht und daß nicht in ihr sein Wesen liegt. Worin liegt nun aber das Wesen des Tragischen Das Tragische ist das Leiden oder der Untergang eines Menschen – das genügt vollkommen, um uns mit Schrecken und Mitleid zu erfüllen, auch wenn in diesem Leiden, in diesem Untergang gar keine „unendlich gewaltige und unabwendbare Macht“ zur Geltung kommt. Mag ein Zufall oder mag eine Notwendigkeit die Ursache des Leidens und des Untergangs eines Menschen sein – Leiden und Untergang [401] sind in jedem Fall furchtbar. Man sagt uns: „Ein rein zufälliger Untergang ist ein Unding in der Tragödie“ – ja, vielleicht in den Tragödien, die von Autoren geschrieben werden; im wirklichen Leben jedoch nicht. In der Dichtung hält es der Autor für seine unbedingte Pflicht, „die Lösung aus der Schürzung selbst abzuleiten“; im Leben ist die Lösung häufig völlig zufällig, und das tragische Geschick kann durchaus zufällig sein, ohne daß es dadurch aufhört, tragisch zu sein. Wir sind einverstanden, daß das Geschick des Macbeth und der Lady Macbeth, das sich mit Notwendigkeit aus ihrer Stellung und aus ihren Handlungen ergibt, tragisch ist. Aber ist etwa das Geschick Gustav Adolfs, der in der Schlacht bei Lützen auf dem Wege zum Triumph und Sieg völlig zufällig ums Leben kam, nicht tragisch Die Definition: das Tragische ist das Furchtbare im Menschenleben, ist, so scheint uns, eine durchaus erschöpfende Definition des Tragischen im Leben wie in der Kunst. Es ist richtig, daß die Mehrzahl der Kunstwerke uns das Recht gibt, hinzuzufügen: „das Furchtbare, das den Menschen mehr oder weniger unvermeidlich ereilt“; aber erstens ist es zweifelhaft, bis zu welchem Grade die Kunst richtig verfährt, wenn sie dieses Furchtbare fast immer als unvermeidlich hinstellt, während es in der Wirklichkeit selbst größtenteils durchaus nicht unvermeidlich, sondern rein zufällig ist 21 ; zweitens scheint es, daß wir sehr oft nur aus der Gewohnheit heraus, in jedem großen Kunstwerk eine „notwendige Verkettung der Umstände“, eine „notwendige Entwicklung der Handlung selbst“ aufzusuchen, mit Not und Mühe eine „Notwendigkeit im Gange der Ereignisse“ auch dort entdecken, wo sie gar nicht vorhanden ist, zum Beispiel in der Mehrzahl der Tragödien Shakespeares 22 . 21 Hinter „zufällig ist“ enthält das Manuskript die Einschaltung: „(diese Frage werde ich noch behandeln, wenn von den Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit die Rede sein wird)“. 22 Hinter „Shakespeare“ heißt es im Manuskript weiter: „Dieser Gedanke verlangt eine ausführliche Entwicklung, die jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich ist; ich kann ihn daher jetzt nur als Meinung vortragen, die ich mir an anderer Stelle zu beweisen vorbehalte. Zu erklären, warum das Schauspiel des Leidens oder des Untergangs eines Menschen furchtbar, tragisch wirkt, erscheint mir als völlig überflüssig. Es scheint mir jedoch nicht ganz jeden wissenschaftlichen Interesses bar zu sein, auf eine besondere Art des Tragischen hinzuweisen, deren selbständige Bedeutung, soweit ich weiß, in der Ästhetik noch nicht anerkannt ist. Außer den Leiden und dem Untergang eines Menschen wirkt auch der moralische Untergang eines Menschen – ein Laster oder ein herzloser oder streng konsequenter Egoismus – tragisch auf uns. Das Böse wirkt, wenn es stark ist, tragisch. Diesen tragischen Charakter des reinen Bösen konnte die Mehrzahl der Leute, die sich mit der Untersuchung des Tragischen beschäftigten, leicht vergessen; denn unter dem Bösen haben gewöhnlich solche Leute zu leiden, durch dieses Böse gehen solche Leute zugrunde; die mit einem Menschen in Berührung kommen, der im Bösen stark ist; deshalb sieht es so aus, als ob der tragische Effekt nur durch die Leiden und den Untergang der Menschen zustande kommt, die an dem Bösen zugrunde gehen. Es gibt jedoch auch niedliche, lustige, vergnügliche, milde Laster und Verbrechen, unter denen sichtbar nur die Sittlichkeit leidet, während die einzelnen Menschen anscheinend nur geringen Schaden nehmen oder sogar etwas gewinnen. Um unseren Gedanken zu erklären, wollen wir ein Beispiel anführen: stellen wir uns einen englischen Lord vor, der sein riesiges Einkommen epikureisch zur Befriedigung seiner leidenschaftlichen Liebe für sinnlichen Genuß verausgabt. Er ist ein Mann, der den Komfort in jeder Hinsicht liebt, auch in bezug auf sein Gewissen; er kommt deshalb gar nicht einmal auf den Gedanken, seine Leidenschaften mit ‚niedrigen‘ oder ‚verbrecherischen‘ Mitteln zu befriedigen; ganz davon zu schweigen, daß er nicht zu Gewaltanwendung oder ähnlichen kriminellen Mitteln greift, betätigt er sich nicht einmal als Verführer. Er ist ein sehr lieber Mensch, und jedermann ist glücklich, von ihm Gunstbezeugungen zu empfangen; auch die, deren er schon überdrüssig geworden ist, tragen ihm nichts nach, OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 183 Mit der herrschenden Definition des Komischen – „das Komische ist das Überwiegen des Bildes über die Idee“, anders gesagt: eine innere Leere und Nichtigkeit, die sich hinter einem Äußeren versteckt, welches Anspruch auf Inhalt und reale Bedeutung erhebt –‚ mit dieser Definition kann man sich durchaus einverstanden erklären; gleichzeitig muß man [402] jedoch sagen, daß Vischer, der Verfasser der besten Ästhetik in Deutschland, den Begriff des Komischen zu eng gefaßt hat, wenn er ihn, zur Erhaltung der Hegelschen dialektischen Methode der Entwicklung von Begriffen, nur dem Begriff des Erhabenen gegenüberstellt. Das kleinliche Komische, das dumme oder stumpfsinnige Komische bildet natürlich einen Gegensatz zum Erhabenen; das häßlich Komische, das mißgestaltete Komische dagegen bildet einen Gegensatz zum Schönen, nicht aber zum Erhabenen. Das Erhabene kann, nach Vischers eigener Darlegung, häßlich sein; wie kann das häßliche Komische ein Gegensatz zum Erhabenen sein, wenn diese beiden Begriffe sich nicht wesentlich, sondern nur graduell, nicht qualitativ, sondern quantitativ unterscheiden, wenn das kleinliche Häßliche zum Komischen gehört, das riesige oder schreckliche Häßliche zum Erhabenen – Daß das Häßliche der Gegensatz des Schönen ist, versteht sich von selbst. Nach Abschluß der Analyse der Auffassungen vom Wesen des Schönen und Erhabenen, müssen wir nunmehr zur Analyse der herrschenden Ansichten von den verschiedenen Verwirklichungsweisen der Idee des Schönen übergehen. Hier tritt nun, scheint es, besonders stark die Bedeutung der Grundbegriffe in Erscheinung, deren Analyse in dieser Skizze soviel Platz beansprucht hat: das Abgehen von der herrschenden Ansicht vom Wesen dessen, was den Hauptinhalt der Kunst ausmacht, führt notwendig zu einer Veränderung der Auffassungen auch vom eigentlichen Wesen der Kunst. Das heute herrschende System der Ästhetik unterscheidet mit vollem Recht drei Formen der Existenz des Schönen, dem in ihr als seine Abarten auch das Erhabene und das Komische zugerechnet werden. (Wir werden nur vom Schönen sprechen, weil es uns ermüden würde, dreimal ein und dasselbe zu wiederholen: alles, was in der heute herrschenden Ästhetik vom Schönen gesagt wird, gilt in ihr voll und ganz auch für seine Abarten; ganz genau so gelten unsere Kritik der herrschenden Auffassungen von den verschiedenen Formen des Schönen und unsere eigenen Auffassungen von der Beziehung des Kunstschönen zum Schönen in der Wirklichkeit voll und ganz für alle übrigen Elemente, [403] die zum Inhalt der Kunst gehören, unter ihnen auch für das Erhabene und das Komische.) Die drei verschiedenen Formen, in denen das Schöne existiert, sind: das Schöne in der Wirklichkeit (oder das Naturschöne, wie die Hegelsche Schule sagt), das Schöne in der Phantasie und das Schöne in der Kunst (in dem wirkliehen Dasein, das ihm die schöpferische Phantasie des Menschen verleiht). Die erste der Grundfragen, denen man hier begegnet, ist die Frage der Beziehung des Schönen in der Wirklichkeit zum Schönen in der Phantasie und in der Kunst. denn er hat sie nicht mit leeren Händen gehen lassen. ‚Wem habe ich etwas Böses getan‘ kann er die Menschen seiner Umgebung mit Stolz fragen. Und er ist wirklich für keinen Einzelmenschen verderblich; verderblich ist er nur für die Gesellschaft, die er ansteckt und schändet; er ist ein Feind nur der ‚strengen‘ Sittlichkeit. In Wirklichkeit aber ist er ein Verbrecher, der schlimmer ist als jeder andere Verbrecher, weil er ein Verderber schlimmer als jeder andere Verderber ist. Sein Beispiel besagt: ‚Ihr braucht das Laster nicht zu fürchten; das Laster braucht niemandem zu schaden; das Laster kann gütig und milde sein.‘ Die Kunst hat, soweit ich mich erinnere, solche Persönlichkeiten allerdings noch nie vom obigen Standpunkt aus dargestellt (man kann allerdings in diesem Zusammenhang auf das bekannte Gemälde ‚Nach der Orgie‘ von Couture verweisen); sie hat sie aber deshalb nicht dargestellt, weil es allzu schwer ist, bei der Darstellung derartiger Persönlichkeiten die empörte Abscheu zurückzuhalten und einen solchen Menschen für den furchtbaren Schaden, den er anrichtet, nicht seine Strafe finden zu lassen, indem man ihn nicht nur als verderblich, sondern auch als jämmerlich, schmutzig und verächtlich darstellt. Das Tragische verwandelt sich hier gegen den Willen des Autors in das Ironisch- Sarkastische Auch diese Art des Tragischen paßt zu der oben aufgestellten Definition. Das führt uns ganz natürlich zum Komischen.“ OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 182<br />

digkeit beruht und daß nicht in ihr sein Wesen liegt. Worin liegt nun aber das Wesen des Tragischen<br />

Das Tragische ist das Leiden oder der Untergang eines Menschen – das genügt vollkommen,<br />

um uns mit Schrecken und Mitleid zu erfüllen, auch wenn in diesem Leiden, in diesem Untergang<br />

gar keine „unendlich gewaltige und unabwendbare Macht“ zur Geltung kommt. Mag<br />

ein Zufall oder mag eine Notwendigkeit die Ursache des Leidens und des Untergangs eines<br />

Menschen sein – Leiden und Untergang [401] sind in jedem Fall furchtbar. Man sagt uns:<br />

„Ein rein zufälliger Untergang ist ein Unding in der Tragödie“ – ja, vielleicht in den Tragödien,<br />

die von Autoren geschrieben werden; im wirklichen Leben jedoch nicht. In der Dichtung<br />

hält es der Autor für seine unbedingte Pflicht, „die Lösung aus der Schürzung selbst<br />

abzuleiten“; im Leben ist die Lösung häufig völlig zufällig, und das tragische Geschick kann<br />

durchaus zufällig sein, ohne daß es dadurch aufhört, tragisch zu sein. Wir sind einverstanden,<br />

daß das Geschick des Macbeth und der Lady Macbeth, das sich mit Notwendigkeit aus ihrer<br />

Stellung und aus ihren Handlungen ergibt, tragisch ist. Aber ist etwa das Geschick Gustav<br />

Adolfs, der in der Schlacht bei Lützen auf dem Wege zum Triumph und Sieg völlig zufällig<br />

ums Leben kam, nicht tragisch Die Definition:<br />

das Tragische ist das Furchtbare im Menschenleben,<br />

ist, so scheint uns, eine durchaus erschöpfende Definition des Tragischen im Leben wie in der<br />

Kunst. Es ist richtig, daß die Mehrzahl der Kunstwerke uns das Recht gibt, hinzuzufügen:<br />

„das Furchtbare, das den Menschen mehr oder weniger unvermeidlich ereilt“; aber erstens ist<br />

es zweifelhaft, bis zu welchem Grade die Kunst richtig verfährt, wenn sie dieses Furchtbare<br />

fast immer als unvermeidlich hinstellt, während es in der Wirklichkeit selbst größtenteils<br />

durchaus nicht unvermeidlich, sondern rein zufällig ist 21 ; zweitens scheint es, daß wir sehr oft<br />

nur aus der Gewohnheit heraus, in jedem großen Kunstwerk eine „notwendige Verkettung<br />

der Umstände“, eine „notwendige Entwicklung der Handlung selbst“ aufzusuchen, mit Not<br />

und Mühe eine „Notwendigkeit im Gange der Ereignisse“ auch dort entdecken, wo sie gar<br />

nicht vorhanden ist, zum Beispiel in der Mehrzahl der Tragödien Shakespeares 22 .<br />

21 Hinter „zufällig ist“ enthält das Manuskript die Einschaltung: „(diese Frage werde ich noch behandeln, wenn<br />

von den Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit die Rede sein wird)“.<br />

22 Hinter „Shakespeare“ heißt es im Manuskript weiter: „Dieser Gedanke verlangt eine ausführliche Entwicklung,<br />

die jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich ist; ich kann ihn daher jetzt nur als Meinung<br />

vortragen, die ich mir an anderer Stelle zu beweisen vorbehalte. Zu erklären, warum das Schauspiel des Leidens<br />

oder des Untergangs eines Menschen furchtbar, tragisch wirkt, erscheint mir als völlig überflüssig. Es scheint<br />

mir jedoch nicht ganz jeden wissenschaftlichen Interesses bar zu sein, auf eine besondere Art des Tragischen<br />

hinzuweisen, deren selbständige Bedeutung, soweit ich weiß, in der Ästhetik noch nicht anerkannt ist.<br />

Außer den Leiden und dem Untergang eines Menschen wirkt auch der moralische Untergang eines Menschen –<br />

ein Laster oder ein herzloser oder streng konsequenter Egoismus – tragisch auf uns. Das Böse wirkt, wenn es<br />

stark ist, tragisch. Diesen tragischen Charakter des reinen Bösen konnte die Mehrzahl der Leute, die sich mit der<br />

Untersuchung des Tragischen beschäftigten, leicht vergessen; denn unter dem Bösen haben gewöhnlich solche<br />

Leute zu leiden, durch dieses Böse gehen solche Leute zugrunde; die mit einem Menschen in Berührung kommen,<br />

der im Bösen stark ist; deshalb sieht es so aus, als ob der tragische Effekt nur durch die Leiden und den<br />

Untergang der Menschen zustande kommt, die an dem Bösen zugrunde gehen. Es gibt jedoch auch niedliche,<br />

lustige, vergnügliche, milde Laster und Verbrechen, unter denen sichtbar nur die Sittlichkeit leidet, während die<br />

einzelnen Menschen anscheinend nur geringen Schaden nehmen oder sogar etwas gewinnen. Um unseren Gedanken<br />

zu erklären, wollen wir ein Beispiel anführen: stellen wir uns einen englischen Lord vor, der sein riesiges<br />

Einkommen epikureisch zur Befriedigung seiner leidenschaftlichen Liebe für sinnlichen Genuß verausgabt.<br />

Er ist ein Mann, der den Komfort in jeder Hinsicht liebt, auch in bezug auf sein Gewissen; er kommt deshalb gar<br />

nicht einmal auf den Gedanken, seine Leidenschaften mit ‚niedrigen‘ oder ‚verbrecherischen‘ Mitteln zu befriedigen;<br />

ganz davon zu schweigen, daß er nicht zu Gewaltanwendung oder ähnlichen kriminellen Mitteln greift,<br />

betätigt er sich nicht einmal als Verführer. Er ist ein sehr lieber Mensch, und jedermann ist glücklich, von ihm<br />

Gunstbezeugungen zu empfangen; auch die, deren er schon überdrüssig geworden ist, tragen ihm nichts nach,<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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