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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 181<br />

sehen wollen, so können wir alle anklagen: Desdemonas Schuld besteht darin, daß sie eine<br />

unschuldige Seele war und infolgedessen keine Ahnung von Verleumdung hatte; Romeos<br />

und Julias Schuld bestand darin, daß sie einander liebten 17 . Der Gedanke, in jedem Zugrundegehenden<br />

einen Schuldigen sehen zu wollen, ist ein überspannter und grausamer Gedanke.<br />

Seine Verbindung mit der griechischen Schicksalsidee und ihren verschiedenen Spielarten ist<br />

sehr deutlich. Hier kann man auf eine Seite dieser Verbindung hinweisen: nach den griechischen<br />

Vorstellungen vom Schicksal ist stets der Mensch selbst an seinem Untergang schuld;<br />

wenn er anders gehandelt hätte, würde ihn der Untergang nicht ereilt haben.<br />

Eine andere Art des Tragischen, das Tragische des sittlichen Konflikts, leitet die Ästhetik aus<br />

dem gleichen Gedanken ab, nur im umgekehrten Sinne: im Tragischen der einfachen Schuld<br />

gilt als Grund des tragischen Geschicks die angebliche Wahrheit, daß jedes Unglück, besonders<br />

das schlimmste Unglück, der Untergang, die Folge eines Verbrechens ist; im Tragischen des<br />

sittlichen Konflikts geht die Ästhetik der Hegelschen Schule von dem Gedanken aus, daß das<br />

Verbrechen immer die Bestrafung des Verbrechers entweder durch seinen Untergang oder<br />

durch Gewissensqualen zur Folge hat. Auch dieser Gedanke hat seinen Ursprung deutlich in<br />

der Überlieferung von den Furien, die den Verbrecher geißeln. Es versteht sich von selbst, daß<br />

in diesem Gedanken unter Verbrechen nicht eigentlich Kriminalverbrechen verstanden sind, die<br />

durch die Staatsgesetze immer geahndet werden, sondern sittliche Verbrechen im allgemeinen,<br />

die entweder nur durch ein Zusammentreffen beson-[400]derer Umstände oder durch die öffentliche<br />

Meinung oder durch das Gewissen des Verbrechers selbst bestraft werden können.<br />

Was die Strafe durch das Zusammentreffen besonderer Umstände betrifft, so machen wir uns<br />

schon lange über die alten Romane lustig, in denen „am Ende stets die Tugend siegte und das<br />

Laster bestraft wurde“ 18 . Aber viele Romanschriftsteller und alle Autoren von Abhandlungen<br />

über die Ästhetik möchten unbedingt, daß Laster und Verbrechen hier auf Erden bestraft<br />

werden. Und so kam die Theorie auf, die behauptet, daß sie immer durch die öffentliche Meinung<br />

und durch Gewissensbisse bestraft werden. Aber auch das ist nicht immer der Fall. Was<br />

die öffentliche Meinung betrifft, so verfolgt sie durchaus nicht alle 19 sittlichen Verbrechen.<br />

Und wenn die Stimme der Gesellschaft nicht jeden Augenblick unser Gewissen weckt, so<br />

wird es in der Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht in uns wach oder schläft, einmal wach geworden,<br />

sehr schnell wieder ein. Jeder gebildete Mensch begreift, wie lächerlich es ist, die<br />

Welt mit den Augen anzusehen, mit denen die Griechen der Zeiten Herodots sie betrachtet<br />

haben; jedermann begreift heute sehr gut, daß im Leiden und im Untergang großer Männer<br />

durchaus nichts Notwendiges liegt, daß nicht jeder zugrunde gehende Mensch an seinen eigenen<br />

Verbrechen zugrunde geht; daß nicht jeder Verbrecher zugrunde geht; daß nicht jedes<br />

Verbrechen vom Gericht der öffentlichen Meinung bestraft wird usw. 20 Deshalb muß man<br />

ganz entschieden sagen, daß das Tragische in uns nicht immer die Idee der Notwendigkeit<br />

erweckt und daß seine Wirkung auf den Menschen durchaus nicht auf der Idee der Notwen-<br />

17 Hinter „einander liebten“ heißt es im Manuskript: „Die Schuld Don Carlos’ und Marquis Posas besteht darin,<br />

daß sie edle Männer sind, und schließlich ist auch das Lamm in der Fabel, das aus dem gleichen Bach trinkt wie<br />

der Wolf, schuldig: warum ist es zum Bach gegangen, wo es dem Wolf begegnen konnte Und vor allem, warum<br />

hat es sich nicht solche Zähne zugelegt, daß es selber den Wolf hätte fressen können“<br />

18 Für die dritte Auflage sind hier zwei Sätze gestrichen: „Wir hätten freilich dabei daran denken können, daß<br />

auch heutzutage derartige Romane geschrieben werden (wir verweisen zum Beispiel auf die Mehrzahl der Romane<br />

von Dickens). Aber wir beginnen jedenfalls zu begreifen, daß die Erde nicht eine Gerichtsstätte, sondern<br />

die Stätte des Lebens ist.“<br />

19 Hinter „nicht alle“ heißt es im Manuskript weiter: „Gemeinheiten, durchaus nicht alle Verbrechen. So hält<br />

zum Beispiel die Gesellschaft unserer Zeit die Verletzung der sittlichen Reinheit für eine Schande nur bei der<br />

Frau, nicht aber beim Mann. Nach der Meinung der Mehrheit ist es für den Mann ganz gut, ein bißchen zu<br />

bummeln, ja, es ist beinahe eine Schande, wenn er in der Jugend nicht ein bißchen bummelt.“<br />

20 Statt „usw.“ heißt es im Manuskript: „ja nicht einmal mit Gewissensbissen“.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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