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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 180<br />
Ausgang ist, so schwer er auch gewesen sein mag, nicht Leiden, sondern Genuß, er ist nicht<br />
tragisch, sondern nur dramatisch. Und ist es nicht wahr, daß, wenn alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen<br />
getroffen werden, die Dinge fast immer glücklich ausgehen Wo gibt es also in der<br />
Natur eine Notwendigkeit des Tragischen Das Tragische im Kampf mit der Natur ist der Zufall.<br />
Schon hierdurch allein wird die Theorie hinfällig, die im Tragischen ein „Gesetz des Universums“<br />
sehen wollen. – „Aber die Gesellschaft aber die anderen Menschen muß nicht jeder<br />
große Mensch mit ihnen einen schweren Kampf bestehen“ Es muß wieder gesagt werden, daß<br />
die großen Ereignisse in der Geschichte nicht immer mit großen Kämpfen verbunden sind, daß<br />
wir uns aber, unter Mißbrauch der Sprache, daran gewöhnt haben, groß nur jene Ereignisse zu<br />
nennen, die mit schweren Kämpfen verbunden waren. Die Taufe der Franken war ein großes<br />
Ereignis; aber wo gab es dabei schweren Kampf Auch die Taufe der Russen vollzog sich ohne<br />
schweren Kampf. Ist das Schicksal der großen Männer tragisch Manchmal ist es tragisch,<br />
manchmal ist es untragisch, gerade so wie das Schicksal unbedeutender Menschen; eine Notwendigkeit<br />
besteht hier durchaus nicht. Und man muß überhaupt sagen, daß das Schicksal der<br />
großen Männer gewöhnlich leichter ist als das der unbedeutenden Menschen; übrigens wieder<br />
nicht infolge einer besonderen Sympathie des Schicksals für die bedeutenden oder einer Antipathie<br />
gegenüber den unbedeutenden Menschen, sondern einfach deshalb, weil die ersteren<br />
stärker, klüger, energischer sind, weil die anderen Menschen ihnen mehr Achtung, mehr Mitgefühl<br />
entgegenbringen und eher bereit sind, ihnen zu helfen. Wenn die Menschen dazu neigen,<br />
andere um ihre Größe [398] zu beneiden, so neigen sie noch mehr dazu, Größe zu verehren; die<br />
Gesellschaft wird dem großen Mann Ehrfurcht erweisen, wenn sie nicht besondere zufällige<br />
Gründe hat, ihn für schädlich zu halten. Ob das Schicksal des großen Mannes tragisch oder<br />
untragisch ist, hängt von den Umständen ab; und in der Geschichte kann man weniger große<br />
Männer antreffen, deren Schicksal tragisch war, als solche, in deren Leben es zwar viel Dramatisches,<br />
aber nichts Tragisches gegeben hat. Krösus, Pompejus, Julius Cäsar hatten ein tragisches<br />
Schicksal; aber Numa Pompilius, Marius, Sulla, Augustus vollendeten ihre Laufbahn<br />
sehr glücklich. Was läßt sich Tragisches im Schicksal Karls des Großen, Peters des Großen,<br />
Friedrichs II., im Leben Luthers, Voltaires, selbst Hegels finden Kampf gab es viel im Leben<br />
dieser Männer; aber allgemein gesprochen muß man zugeben, daß sie Erfolg und Glück auf<br />
ihrer Seite gehabt haben. Und wenn Cervantes in Armut gestorben ist – sterben nicht Tausende<br />
von unbedeutenden Menschen im Elend, Menschen, die nicht weniger als Cervantes Anspruch<br />
auf einen glücklichen Ausgang ihres Lebens hatten und die, weil sie unbedeutend waren, dem<br />
Gesetz der Tragik nicht unterliegen konnten Die Zufälligkeiten des Lebens treffen unterschiedslos<br />
bedeutende wie unbedeutende Menschen, begünstigen unterschiedslos die einen wie<br />
die anderen. – Aber setzen wir unsere Betrachtung fort und gehen wir vom Begriff des allgemeinen<br />
Tragischen zum Tragischen der „einfachen Schuld“ über.<br />
„Im Charakter des großen Menschen“, sagt die herrschende Ästhetik, „gibt es immer schwache<br />
Seiten: in den Handlungen des bedeutenden Menschen gibt es immer etwas Fehlerhaftes<br />
oder Verbrecherisches Diese Schwäche, dieser Fehltritt, dieses Verbrechen bringen ihn zu<br />
Fall. Dabei liegen sie notwendig in der Tiefe seines Charakters, so daß der große Mensch<br />
eben an dem zugrunde geht, was die Quelle seiner Größe ist.“ Es unterliegt keinem Zweifel,<br />
daß es sich häufig tatsächlich so verhält: seine zahllosen Kriege haben Napoleon groß gemacht;<br />
sie haben ihn auch gestürzt; fast das gleiche geschah mit Ludwig XIV. Aber es kommt<br />
nicht immer so. Oft geht der große Mensch zugrunde, ohne daß [399] von seiner Seite irgendeine<br />
Schuld vorliegt. So ging Heinrich IV. zugrunde, und mit ihm fiel Sully. In gewisser<br />
Hinsicht finden wir einen solchen schuldlosen Sturz auch in den Tragödien, ungeachtet dessen,<br />
daß ihre Autoren in ihren Auffassungen gebunden waren; oder war Desdemona wirklich<br />
die Ursache ihres Unterganges Jedermann sieht, daß nur die hinterlistigen Gemeinheiten<br />
Jagos sie zugrunde gerichtet haben. Waren etwa Romeo und Julia selbst die Ursache ihres<br />
Unterganges Gewiß, wenn wir unbedingt in jedem, der zugrunde geht, einen Verbrecher<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013