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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 179<br />
ligkeit größer wird); gehen wir weiter. Der Zufall wirft unsere Berechnungen über den Haufen<br />
– das bedeutet, das Schicksal liebt es, unsere Berechnungen zu durchkreuzen, es liebt,<br />
sich über den Menschen und seine Berechnungen lustig zu machen; der Zufall läßt sich nicht<br />
voraussehen, und es läßt sich nicht sagen, warum es eben so gekommen ist und nicht anders –<br />
das Schicksal ist also launisch und eigenwillig; der Zufall ist häufig verhängnisvoll für den<br />
Menschen – folglich liebt das Schicksal, dem Menschen Böses zu tun, das Schicksal ist böse;<br />
und wirklich ist bei den Griechen das Schicksal ein Misanthrop; der böse, mächtige Mensch<br />
fügt gern gerade den besten, den klügsten, den glücklichsten Menschen Schaden zu – eben<br />
diese Menschen richtet auch das Schicksal besonders gern zugrunde; der böse, launische und<br />
sehr mächtige Mensch liebt es, seine Macht zu erkennen zu geben, indem er demjenigen, den<br />
er vernichten will, im voraus sagt: „Ich will dies und jenes mit dir tun; versuche es, mit mir<br />
zu kämpfen“, – ebenso teilt auch das Schicksal seine Beschlüsse im voraus mit, um die Schadenfreude<br />
zu genießen, um uns zu zeigen, wie machtlos wir ihm gegenüber sind, und sich<br />
lustig zu machen über unsere schwachen, erfolglosen Versuche, mit ihm zu kämpfen, ihm zu<br />
entrinnen. Sonderbar erscheinen uns heute solche Auffassungen. Aber sehen wir zu, wie sie<br />
sich auf die ästhetische Theorie des Tragischen ausgewirkt haben.<br />
Sie besagt: das freie Handeln des Menschen empört den natürlichen Gang der Natur; die Natur<br />
und ihre Gesetze stehen gegen den Verletzer ihrer Rechte auf; die Folge hiervon sind Leiden<br />
oder der Untergang der handelnden Person, wenn ihre Handlung so machtvoll war, daß der<br />
durch sie hervorgerufene Gegenschlag ernsthaft war: „darum unter-[396]liegt alles Große dem<br />
tragischen Geschick“. Die Natur erscheint hier als ein lebendiges, außerordentlich empfindliches<br />
und eifersüchtig über seine Unantastbarkeit wachendes, lebendiges Wesen. Aber kann die<br />
Natur sich wirklich beleidigt fühlen Rächt sich die Natur wirklich Nein, sie fährt fort, ewig<br />
nach ihren Gesetzen zu handeln, sie weiß nichts vom Menschen und seinen Geschäften, von<br />
seinem Glück, von seinem Untergang; ihre Gesetze können für den Menschen und seine Angelegenheiten<br />
oft eine verhängnisvolle Wirkung haben und haben sie oft auch; aber jede menschliche<br />
Handlung stützt sich auf sie. Der Natur ist der Mensch gleichgültig; sie ist weder sein<br />
Feind noch sein Freund; sie ist das bald bequeme, bald unbequeme Betätigungsfeld des Menschen.<br />
Daran besteht kein Zweifel, daß jede wichtige Angelegenheit des Menschen notwendig<br />
zu einem heftigen Kampf mit der Natur oder mit anderen Menschen führt; aber warum ist das<br />
so Nur deshalb, weil, wie wichtig uns eine Angelegenheit auch erscheint, wir gewohnt sind,<br />
sie nicht für wichtig anzusehen, wenn sie ohne heftigen Kampf vor sich geht. So ist die Atmung<br />
das Wichtigste im Menschenleben; aber wir schenken ihr nicht einmal Aufmerksamkeit, weil<br />
ihr gewöhnlich keine Hindernisse im Wege stehen; für den Wilden, der sich von den ihm mühelos<br />
zufallenden Früchten des Brotbaumes nährt, und für den Europäer, der nur dank der<br />
schweren Arbeit des Ackerbaus zu seinem Brot kommt, ist das Essen im gleichen Maße wichtig;<br />
aber das Aufsammeln der Früchte des Brotbaums ist keine „wichtige“ Angelegenheit, denn<br />
sie ist leicht; „wichtig“ ist der Ackerbau, denn er ist schwer. Also: nicht alle ihrer wesentlichen<br />
Bestimmung nach wichtigen Angelegenheiten verlangen Kampf; aber wir sind gewohnt, nur<br />
diejenigen von den ihrem Wesen nach wichtigen Angelegenheiten wichtig zu nennen, die<br />
schwer sind. Es gibt viele wertvolle Dinge, die keinerlei Wert haben, weil sie uns mühelos zufallen,<br />
zum Beispiel das Wasser und das Sonnenlicht; und es gibt viele sehr wichtige Angelegenheiten,<br />
denen nur deshalb keine Wichtigkeit beigemessen wird, weil sie leicht vor sich gehen.<br />
Aber nehmen wir die übliche Ausdrucksweise an; mögen demnach wichtig nur die Angelegenheiten<br />
sein, die einen schweren Kampf [397] erfordern. Ist dieser Kampf denn wirklich<br />
immer tragisch Durchaus nicht; manchmal ist er tragisch, manchmal nicht, je nachdem. Der<br />
Seefahrer kämpft mit dem Meer, mit Stürmen, mit Riffen; schwer ist seine Laufbahn; aber ist<br />
diese Laufbahn notwendig tragisch Auf ein Schiff, das im Sturm an einem Riff zerschellt,<br />
kommen hundert andere Schiffe, die unbeschädigt den Hafen erreichen. Fast immer ist Kampf<br />
notwendig; aber nicht immer geht der Kampf unglücklich aus. Und ein Kampf mit glücklichem<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013