15.01.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 178<br />

sie kann sie nicht mit der Wahrheit in Einklang bringen 15 . Folgendermaßen hat der Schicksalsbegriff<br />

sich gebildet und entwickelt 16 :<br />

Die Bildung hat auf den Menschen unter anderem die Wirkung, daß sie seinen Gesichtskreis<br />

erweitert und ihm dadurch die Möglichkeit gibt, auch solche Erscheinungen in ihrem wahren<br />

Sinn zu verstehen, die nicht dasselbe sind wie die ihm zunächstliegenden Erscheinungen,<br />

welche dem ungebildeten Geist, der die nicht unmittelbar zur Sphäre seiner Lebensfunktionen<br />

gehörenden Erscheinungen nicht begreift, als die allein verständlichen erscheinen. Die Wissenschaft<br />

gibt dem Menschen eine Vorstellung davon, daß die Tätigkeit der anorganischen<br />

Natur und das Leben der Pflanzen völlig verschieden sind vom menschlichen Leben, und daß<br />

auch das Leben der Tiere nicht völlig das gleiche ist wie das Leben der Menschen. Der Wilde<br />

oder Halbwilde stellt sich das Leben nicht anders vor als so, wie er es unmittelbar kennt, also<br />

als das Menschenleben; ihm scheint, daß der Baum redet, fühlt, sich freut und leidet wie der<br />

Mensch; daß die Tiere in allem ebenso bewußt handeln wie [394] der Mensch, daß sie sogar<br />

in der menschlichen Sprache sprechen können und es nur deshalb nicht tun, weil sie listig<br />

sind und hoffen, durch Schweigen mehr zu gewinnen als durch Sprechen. Ebenso stellt er<br />

sich das Leben des Flusses, des Felsens vor: der Felsen ist ein versteinerter Held, der immer<br />

noch fühlen und denken kann; der Fluß ist eine Najade, eine Nixe, ein Neck. Das Erdbeben in<br />

Sizilien kommt daher, daß der Gigant, der unter dieser Insel begraben liegt, versucht, die Last<br />

abzuwälzen, die auf ihm liegt. In der ganzen Natur sieht der Wilde ein menschenartiges Leben<br />

und führt alle Naturerscheinungen auf bewußte Handlungen menschenähnlicher Wesen<br />

zurück. Wie er den Wind, die Kälte und die Hitze vermenschlicht (wir erinnern an unser russisches<br />

Märchen von dem Streit zwischen dem Bauer-Wind, dem Bauer-Frost und dem Bauer-Sonne,<br />

wer von ihnen stärker sei) oder die Krankheit (die Erzählungen von der Cholera,<br />

von den zwölf Fieberschwestern, vom Skorbut; letztere Erzählung ist unter den Leuten verbreitet,<br />

die in Spitzbergen leben und arbeiten), ebenso vermenschlicht er die Macht des Zufalls.<br />

Seine, des Zufalls Handlungen der Willkür eines menschenähnlichen Wesens zuzuschreiben<br />

ist sogar leichter, als auf gleiche Weise andere Erscheinungen der Natur und des<br />

Lebens zu erklären, denn gerade die Handlungen des Zufalls können eher als die Äußerungen<br />

anderer Kräfte den Gedanken an Laune, Willkür, an alle die Eigenschaften wachrufen, die zur<br />

menschlichen Persönlichkeit gehören. Betrachten wir nun, auf welche Weise sich aus der<br />

Auffassung des Zufalls als der Handlung eines menschenähnlichen Wesens alle Eigenschaften<br />

entwickeln, die die wilden oder halbwilden Völker dem Schicksal zuschreiben. Je wichtiger<br />

die Sache ist, die der Mensch sich vornimmt, um so mehr Bedingungen sind nötig, damit<br />

sie gerade so zustande kommt, wie sie geplant ist; fast niemals finden sich alle Bedingungen<br />

so ein, wie der Mensch es berechnet hat, und deshalb geht eine wichtige Sache fast nie genau<br />

so aus, wie der Mensch angenommen hat. Diese Zufälligkeit, die unsere Pläne über den Haufen<br />

wirft, erscheint dem halbwilden Menschen, wie wir gesagt haben, als das Werk eines<br />

menschenähnlichen Wesens, des Schicksals; [395] aus diesem Grundcharakterzug, den wir<br />

beim Zufall, beim Schicksal, feststellen können, folgen ganz von selbst alle Eigenschaften,<br />

die die modernen Wilden, viele östliche Völker und die alten Griechen dem Schicksal zuschreiben.<br />

Es ist klar, daß gerade die allerwichtigsten Dinge zum Spielball des Schicksals<br />

werden (weil, wie wir gesagt haben, mit der Wichtigkeit der Sache auch die Zahl der Bedingungen<br />

wächst, von denen sie abhängt, und infolgedessen auch das Tätigkeitsfeld der Zufäl-<br />

15 Hinter „in Einklang bringen“ heißt es im Manuskript: „Die Wissenschaft kann nur zeigen, wie der Irrtum<br />

entstanden ist, kann sich ihn aber nicht zu eigen machen.“<br />

16 Im Manuskript heißt es hier weiter: „Der halbwilde Mensch kann sich ein Leben, das seinem eignen Leben<br />

nicht ähnelt, nicht vorstellen. Deshalb stellt er sich alle Naturkräfte in menschenähnlicher Gestalt vor. Indem der<br />

halbwilde Mensch alles vermenschlicht, stellt er sich auch die Macht des Zufalls in Gestalt eines Menschen vor;<br />

dieses Wesen heißt bei ihm Schicksal. Da ich annehmen muß, daß diese kurze Andeutung genauerer Erklärung<br />

bedarf, will ich mir Mühe geben, sie gehörig zu entwickeln.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!