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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 177<br />
Nacht u. a. m. Was die späteren Wandlungen dieser Grundauffassung unter dem Einfluß der<br />
von der Wissenschaft gelieferten Weltanschauung betrifft, so erscheint es uns überflüssig,<br />
diese Veränderungen aufzuzählen. Und wir halten es für noch weniger [392] notwendig, sie<br />
einer besonderen Kritik zu unterziehen, weil sie alle, ebenso wie die Auffassung der modernen<br />
Ästhetiker vom Tragischen, das Ergebnis der Bemühung sind, Unversöhnliches – phantastische<br />
Vorstellungen des halbwilden Menschen und wissenschaftliche Begriffe – in Einklang zu<br />
bringen, und daher ebenso unhaltbar sind wie die Auffassung der modernen Ästhetiker vom<br />
Tragischen: der Unterschied ist nur der, daß das Gezwungene der Verbindung der widersprechenden<br />
Prinzipien in den früheren Annäherungsversuchen offensichtlicher war als bei der<br />
Auffassung vom Tragischen, die mit außerordentlichem dialektischem Tiefsinn formuliert ist.<br />
Deshalb halten wir es nicht für nötig, alle diese entstellten Auffassungen vom Schicksal darzulegen,<br />
sondern begnügen uns damit, zu zeigen, wie ungeschlacht die ursprüngliche Grundform<br />
auch durch das neuste und höchst kunstvolle dialektische Gewand durchblickt, mit dem sie<br />
sich in der jetzt herrschenden ästhetischen Auffassung des Tragischen bekleidet hat.<br />
Folgendermaßen fassen die Völker, die eine unverfälschte Auffassung vom Schicksal haben,<br />
den Gang des Menschenlebens auf: Wenn ich keine Vorsichtsmaßnahmen gegen das Unglück<br />
treffe, kann ich unversehrt bleiben und bleibe auch fast immer unversehrt; sobald ich jedoch<br />
Vorsichtsmaßnahmen treffe, gehe ich unvermeidlich zugrunde, und zwar gerade durch das,<br />
worin ich Rettung suchte. Ich trete eine Reise an und treffe alle Vorsichtsmaßnahmen gegen<br />
Unglücksfälle, die mir unterwegs begegnen können; da ich weiß, daß nicht überall ärztliche<br />
Hilfe zu finden ist, nehme ich u. a. einige Fläschchen mit den nötigsten Medizinen mit und<br />
stecke sie in die Innentasche des Reisewagens. Was muß, nach der Auffassung der alten<br />
Griechen, die notwendige Folge sein Daß der Wagen unterwegs umstürzt und die Fläschchen<br />
herausfallen; auch ich selber stürze heraus, falle mit der Schläfe auf eins der Fläschchen,<br />
zerdrücke es, ein Glassplitter dringt mir in die Schläfe und ich sterbe. Hätte ich die Vorsichtsmaßnahmen<br />
nicht getroffen, so wäre mir kein Unglück zugestoßen; aber ich wollte<br />
mich gegen das Unglück schützen und bin durch das zugrunde gegangen, womit ich mich<br />
davor sichern wollte. Eine solche Ansicht [393] vom Menschenleben paßt so wenig zu unseren<br />
Auffassungen, daß sie für uns nur als Phantasieprodukt Interesse hat; eine auf die Idee des<br />
orientalischen oder altgriechischen Schicksals aufgebaute Tragödie hat für uns nur die Bedeutung<br />
eines durch Bearbeitung entstellten Märchens. Dabei ist aber die ganze von uns vorgelegte<br />
Darstellung der Auffassung vom Tragischen in der deutschen Ästhetik nur der Versuch,<br />
den Schicksalsbegriff mit den Begriffen der modernen Wissenschaft in Einklang zu<br />
bringen 14 . Diese Einführung des Schicksalsbegriffes in die Wissenschaft vermittels der ästhetischen<br />
Betrachtungsweise des Wesens des Tragischen ist mit außerordentlichem Tiefsinn<br />
unternommen worden, der von der außerordentlichen Macht der Geister zeugt, die sich darum<br />
bemüht haben, wissenschaftsfremde Lebensauffassungen mit Begriffen der Wissenschaft zu<br />
versöhnen; aber dieser tiefsinnige Versuch liefert nur den entscheidenden Beweis dafür, daß<br />
derartige Bemühungen niemals einen Erfolg haben können: die Wissenschaft kann nur das<br />
Zustandekommen der phantastischen Vorstellungen des halbwilden Menschen erklären, aber<br />
14 Dieser Satz ist im Manuskript von Nikitenko angestrichen. Hinter ihm hieß es dort ursprünglich: „Man könnte<br />
uns sogar einen Vorwurf daraus machen, daß wir uns bei der Entlarvung dieses Versuchs aufhalten, dessen<br />
Unsinnigkeit für jedermann, der das Leben einfach, ohne wissenschaftliche Vorurteile betrachtet, offenkundig<br />
ist; aber wenn es einerseits nötig ist, für Menschen, die sich nicht speziell mit einer Wissenschaft befassen, die<br />
von ihr ausgearbeiteten Begriffe zu erklären, so ist es andererseits auch notwendig, auf wissenschaftliche Weise<br />
die Unhaltbarkeit von Begriffen zu beweisen, die wissenschaftsfremd sind, aber wissenschaftliche Form anzunehmen<br />
vermocht haben, und zwar auch dann zu beweisen, wenn ihre Unhaltbarkeit für den Nichtfachmann<br />
gerade deshalb reichlich klar ist, weil er nichts von den Vorurteilen weiß, denen der Fachmann verfällt. Wird die<br />
Kritik nicht vom Standpunkt des Fachwissens aus durchgeführt, so bleibt sie wissenschaftlich unbefriedigend.<br />
Im vorliegenden Fall ist die Fachkritik um so notwendiger, als es sich um eine Einführung handelt.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013