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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 176<br />

jekts fließt, als Kehrseite seiner Tat, kraft der verletzten sittlichen Ordnung, aus der Schuld<br />

selbst. Die Organe der Strafe können entweder die verletzten Subjekte oder der Übeltäter<br />

selbst sein, der sich seiner Schuld bewußt wird. Die höchste Form des Tragischen schließlich<br />

ist die Tragik des sittlichen Konflikts. Das allgemeine Sittengesetz zerfällt in Teilforderungen,<br />

die häufig im Gegensatz zueinander stehen können, so daß der Mensch, indem er der einen<br />

Forderung gerecht wird, notwendig der anderen zuwiderhandelt. Dieser Kampf, der einer inneren<br />

Notwendigkeit und nicht dem Zufall entspricht, kann der innere Kampf im Herzen eines<br />

einzelnen Menschen bleiben. Von dieser Art ist der Kampf der Antigone bei Sophokles. Aber<br />

da die Kunst alles in einzelnen Gestalten personifiziert, wird der Kampf zweier Forderungen<br />

des Sittengesetzes in der Kunst gewöhnlich als Kampf zweier Personen dargestellt. Eine der<br />

beiden einander widersprechenden Tendenzen steht im Vorrecht und ist daher stärker als die<br />

andere; sie besiegt zunächst alles, was sich ihr widersetzt, und gerät dadurch bereits ins Unrecht,<br />

indem sie den berechtigten Anspruch der entgegengesetzten Tendenz unterdrückt. Nun<br />

ist das Recht auf jener Seite, die zuerst besiegt worden war, und die Tendenz, die ihrem Wesen<br />

nach im Vorrecht ist, geht, mit ihrem eigenen Unrecht belastet, zugrunde unter den Schlägen<br />

der entgegengesetzten Tendenz, die, in ihrem Recht verletzt, zu Beginn des Gegenschlages<br />

die ganze Kraft der Wahrheit und des Rechts auf ihrer Seite hat, jedoch, indem sie siegt,<br />

ebenso ins Unrecht gerät, was den Untergang oder Leiden zur Folge hat. Sehr schön ist der<br />

ganze Verlauf des Tragischen in Shakespeares ‚Julius Cäsar‘ entwickelt: Rom tendiert zur<br />

monarchischen Herrschaftsform; der Vertreter dieser Tendenz ist Julius Cäsar; sie steht im<br />

Vorrecht und ist deshalb stärker als die entgegengesetzte Richtung, die die von alters her bestehende<br />

Ordnung Roms aufrechterhalten will; Julius Cäsar besiegt Pompejus. Aber auch das<br />

von alters her Bestehende hat Existenzberechtigung; es wird durch Julius Cäsar zerstört, aber<br />

die durch ihn verletzte Gesetzlichkeit erhebt sich gegen ihn in der Person des Brutus. Cäsar<br />

geht unter; aber die Verschwörer selbst haben das [391] quälende Bewußtsein, daß Cäsar, der<br />

von ihrer Hand fiel, größer war als sie 12 , und die Macht, deren Vertreter er war, aufersteht in<br />

der Person der Triumviren. Brutus und Kassius gehen zugrunde; aber am Grabe des Brutus<br />

sprechen Antonius und Oktavius ihr Bedauern 13 über seinen Tod aus. So kommt es schließlich<br />

zur Versöhnung der entgegengesetzten Tendenzen, von denen jede in ihrer Einseitigkeit, die<br />

nach und nach durch den Fall beider ausgeglichen wird, sowohl im Recht als auch im Unrecht<br />

ist. Aus Kampf und Untergang entsteht Einheit und neues Leben.“ *<br />

Aus dieser Darstellung läßt sich erkennen, daß die Auffassung des Tragischen in der deutschen<br />

Ästhetik mit dem Begriff des Schicksals verknüpft ist, und zwar so, daß das tragische<br />

Geschick des Menschen gewöhnlich als „Konflikt des Menschen mit dem Schicksal“ oder als<br />

Folge der „Einmischung des Schicksals“ aufgefaßt wird. Der Begriff des Schicksals wird in<br />

den neueren europäischen Büchern, die ihn mit Hilfe unserer wissenschaftlichen Begriffe zu<br />

erklären, ja mit diesen zu verbinden suchen, meistens entstellt; darum ist es notwendig, den<br />

Schicksalsbegriff in seiner ganzen Reinheit und Nacktheit vorzuführen. Dadurch wird er von<br />

der unangebrachten Verquickung mit Begriffen der Wissenschaft, die ihm eigentlich widersprechen,<br />

befreit und offenbart seine ganze Unhaltbarkeit, die bei seiner jüngsten Ummodelung<br />

nach unseren Sitten verdeckt wird. Eine lebendige und echte Auffassung vom Schicksal<br />

hatten die alten Griechen (d. h. die Griechen, bevor es bei ihnen eine Philosophie gab); sie ist<br />

bis jetzt auch bei vielen Völkern des Orients lebendig; sie beherrscht die Erzählungen Herodots,<br />

die griechischen Mythen, die indischen Heldenlieder, die Märchen aus Tausendundeiner<br />

12 Hinter „als sie“ heißt es im Manuskript: „und gehen schließlich durch die Kraft zugrunde, gegen die sie sich<br />

empörten und die in der Person der Triumviren aufersteht“.<br />

13 Hinter „ihr Bedauern“ heißt es im Manuskript: „über Brutus aus und erkennen Seine Bestrebungen als berechtigt“.<br />

* Der vorstehende Absatz ist unter Zugrundelegung der Texte Vischers (Ästhetik, Erster Teil, § 123-135, S. 285-<br />

314) in strenger Anlehnung an die Redaktion Tschernyschewskis wiedergegeben. Die Red.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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