Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig
Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig
Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 172<br />
übersteigen scheinen, ist wahr; aber wenn eine Erscheinung sich als für den Menschen unüberwindlich<br />
darstellt, so folgt daraus noch nicht, daß sie ihm unermeßlich, unendlich mächtig<br />
erscheint. Im Gegenteil, wenn der Mensch ein Gewitter betrachtet, denkt er sehr wohl daran,<br />
daß es machtlos ist gegenüber der Erde, daß der erste beste unbedeutende Hügel der ganzen<br />
Gewalt des Sturmes und allen Blitzschlägen unerschütterlich standhält. Gewiß kann der Blitz<br />
einen Menschen töten; aber was hat das schon zu sagen Nicht dieser Gedanke ist die Ursache<br />
dafür, daß das Gewitter mir majestätisch erscheint. Wenn ich zusehe, wie sich die Flügel einer<br />
Windmühle drehen, weiß ich auch sehr wohl, daß mich der Windmühlenflügel, wenn er mich<br />
trifft, wie einen Span knicken kann, und „werde mir der Nichtigkeit meiner Kräfte gegenüber<br />
der Kraft des Windmühlenflügels bewußt“, dabei aber wird die Betrachtung einer sich drehenden<br />
Windmühle wohl kaum bei irgend jemanden die Empfindung des Erhabenen wachgerufen<br />
haben. „Aber hierbei mache ich mir keine Sorge um mich selbst; ich weiß, daß der Windmühlenflügel<br />
mich nicht streifen wird; ich habe nicht das Gefühl des Schreckens, das das Gewitter<br />
in [383] mir hervorruft.“ Das ist richtig; aber damit ist schon etwas ganz anderes ausgesagt, als<br />
was früher behauptet wurde; dadurch wird gesagt: „Das Erhabene ist das Schreckliche, das<br />
Bedrohliche.“ Betrachten wir diese Definition des „Erhabenen der Naturkräfte“, die wir tatsächlich<br />
in den Ästhetiken vorfinden. Das Furchtbare ist sehr oft erhaben, das ist richtig; aber<br />
es ist nicht immer erhaben; die Klapperschlange ist entsetzlicher als der Löwe; aber sie ist<br />
abscheulich-entsetzlich, und nicht erhaben-entsetzlich. Das Gefühl des Entsetzens kann die<br />
Empfindung des Erhabenen verstärken, aber Entsetzen und Erhabenheit sind zwei grundverschiedene<br />
Begriffe. Gehen wir aber noch weiter in der Reihe der majestätischen Erscheinungen.<br />
Wir haben in der Natur nichts zu sehen bekommen, was unmittelbar von Grenzenlosigkeit<br />
kündete; gegen die Schlußfolgerung, die sich hieraus ziehen läßt, könnte man bemerken,<br />
daß „das wahrhaft Erhabene sich nicht in der Natur, sondern im Menschen selbst vorfindet“;<br />
zugegeben, obwohl es auch in der Natur viel wahrhaft Erhabenes gibt. Aber warum erscheinen<br />
uns „grenzenlose“ Liebe oder der Ausbruch eines „alles zermalmenden“ Zorns als „erhaben“<br />
Etwa deshalb, weil die Macht ihres Strebens „unwiderstehlich ist“, weil sie „durch ihre Unwiderstehlichkeit<br />
die Idee des Unendlichen hervorruft“ Wenn das zutrifft, so ist das Schlafbedürfnis<br />
bei weitem unwiderstehlicher: auch der leidenschaftlichste Liebhaber kann schwerlich<br />
volle vier Tage hintereinander ohne Schlaf auskommen. Bedeutend unwiderstehlicher, als das<br />
Bedürfnis zu „lieben“ 9 , ist das Bedürfnis zu essen und zu trinken: das sind wahrhaft grenzenlose<br />
Bedürfnisse, da es keinen Menschen gibt, der ihre Macht nicht anerkennt, während sehr<br />
viele von der Liebe nicht einmal eine Vorstellung haben; diesen Bedürfnissen zuliebe werden<br />
viel größere und viel schwerere Heldentaten vollbracht, als um der „Allmacht“ der Liebe willen.<br />
Weshalb ist dann der Gedanke an Essen und Trinken nicht erhaben, die Idee der Liebe<br />
dagegen erhaben Unwiderstehlichkeit ist noch nicht Erhabenheit; Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit<br />
haben durchaus keine Beziehung zur Idee der Erhabenheit gefunden.<br />
[384] Nach alledem ist es kaum möglich, die Auffassung zu teilen, daß „das Erhabene das<br />
Überwiegen der Idee über die Form ist“ oder daß „das Wesen des Erhabenen in der Erwekkung<br />
der Idee des Unendlichen besteht“. Worauf beruht dann aber die Erhabenheit Eine sehr<br />
einfache Definition des Erhabenen wird, scheint uns, alle in dieses Gebiet gehörenden Erscheinungen<br />
umfassen und ausreichend erklären.<br />
„Das Erhabene ist das, was sehr viel größer ist als alles, mit dem wir es vergleichen können.“<br />
– „Erhaben ist ein Gegenstand, der seinen Ausmaßen nach alle Gegenstände, mit denen wir<br />
ihn vergleichen können, um ein Vielfaches übertrifft; erhaben ist die Erscheinung, die um<br />
vieles mächtiger ist als die anderen Erscheinungen, mit denen wir sie vergleichen.“<br />
9 Hinter „lieben“ heißt es im Manuskript: „(d. h. wahnsinnig verliebt zu sein, denn diese Liebe wird gewöhnlich<br />
in den pathetischen Romanen dargestellt, und von ihr ist in den Ästhetiken die Rede)“.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013