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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 171<br />
danken, wonach das Erhabene die Idee des Absoluten weckt, größere Aufmerksamkeit<br />
schenken, als der im vorgehenden behandelten Auffassung von dem Überwiegen der Idee<br />
über das Bild, zu deren Kritik einige Worte genügen würden.<br />
Leider ist hier nicht der Ort, die Idee des „Absoluten“, des Unendlichen, einer Analyse zu unterziehen<br />
und die eigentliche Bedeutung des Absoluten im Bereich der metaphysischen Begriffe<br />
aufzuzeigen; erst dann, wenn wir diese Bedeutung verstehen, wird die ganze Unbegründetheit<br />
der Auffassung des Erhabenen als des Unendlichen klar. Aber auch wenn wir uns nicht<br />
auf metaphysische Diskussionen einlassen, können wir aus den Tatsachen ersehen, daß die<br />
Idee des Unendlichen, wie wir sie auch verstehen mögen, nicht immer oder, besser gesagt, fast<br />
nie mit der Idee des Erhabenen verbunden ist. Wenn wir streng und unvoreingenommen beobachten,<br />
was in uns vorgeht, wenn wir das Erhabene anschauen, können wir uns davon überzeugen,<br />
daß 1. als erhaben uns der Gegenstand selbst erscheint, nicht aber irgendwelche durch<br />
diesen Gegenstand hervorgerufene Gedanken; so ist z. B. an und für sich majestätisch der<br />
Kasbek, majestätisch an und für sich das Meer, majestätisch an und für sich die Persönlichkeit<br />
Cäsars oder [381] Katos. Natürlich können beim Anschauen des erhabenen Gegenstandes in<br />
uns Gedanken verschiedener Art erwachen, die den Eindruck verstärken, die der Gegenstand<br />
auf uns ausübt; aber ob sie erwachen oder nicht, ist eine Sache des Zufalls, unabhängig von<br />
dem der Gegenstand erhaben bleibt: Gedanken und Erinnerungen, die eine Empfindung verstärken,<br />
entstehen bei jeder Empfindung, aber sie sind bereits die Folge und nicht die Ursache<br />
der ursprünglichen Empfindung, und wenn ich beim Nachdenken über die Heidentat Mucius<br />
Scävolas auf den Gedanken komme: „Ja, grenzenlos ist die Kraft des Patriotismus“, so ist dieser<br />
Gedanke nur die Folge des Eindrucks, den, unabhängig von ihm, Mucius Scävolas Tat<br />
selbst auf mich ausgeübt hat, nicht aber die Ursache dieses Eindrucks; ebenso ist der Gedanke:<br />
„Es ist nichts Schöneres auf der Welt als der Mensch“, ein Gedanke, der in mir entstehen<br />
kann, wenn ich über die Abbildung eines schönen Gesichts nachdenke, nicht die Ursache davon,<br />
daß ich mich über dieses Gesicht als etwas Schönes begeistere, sondern die Folge davon,<br />
daß es mir schon vor dem Gedanken und unabhängig von ihm schön erscheint. Und selbst<br />
wenn ich daher zugebe, daß die Anschauung des Erhabenen immer auf die Idee der Unendlichkeit<br />
führt, muß doch die Ursache der Wirkung, die das einen solchen Gedanken hervorrufende,<br />
nicht aber von ihm hervorgerufene Erhabene auf uns ausübt, nicht in dieser Idee, sondern<br />
in irgend etwas anderem liegen. Wenn wir aber unsere Vorstellung vom erhabenen Gegenstand<br />
der Betrachtung unterziehen, entdecken wir, daß 2. ein Gegenstand uns sehr häufig<br />
erhaben erscheint, ohne daß er dabei aufhört, durchaus nicht grenzenlos zu erscheinen, ja fortfährt,<br />
im ausgesprochenen Gegensatz zur Idee der Grenzenlosigkeit zu stehen. So ist der<br />
Montblanc oder der Kasbek ein majestätischer, erhabener Gegenstand; aber niemand von uns<br />
wird, im Widerspruch zum Augenschein, auf die Idee kommen, in ihm etwas unbegrenzt oder<br />
unermeßlich Großes zu sehen. Das Meer scheint uns grenzenlos, wenn wir die Ufer nicht sehen;<br />
aber alle Ästhetiker behaupten (und zwar mit vollem Recht), daß das Meer uns bedeutend<br />
gewaltiger erscheint, wenn wir das Ufer sehen, als wenn [382] wir es nicht sehen. Da haben<br />
wir also eine Tatsache, die offenbart, daß die Idee des Erhabenen nicht nur nicht durch die<br />
Idee des Grenzenlosen hervorgebracht wird, sondern daß sie im Widerspruch zu ihr stehen<br />
kann (und häufig steht)‚ und daß die Grenzenlosigkeit den Eindruck des Erhabenen ungünstig<br />
beeinflussen kann. Gehen wir weiter und betrachten wir einige majestätische Erscheinungen<br />
im Maße des Anwachsens der Wirkung, die sie auf das Gefühl des Erhabenen ausüben. Das<br />
Gewitter ist eine der majestätischsten Erscheinungen der Natur; aber man muß schon eine allzu<br />
verstiegene Phantasie haben, um irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Gewitter und<br />
der Unendlichkeit sehen zu wollen. Während eines Gewitters freuen wir uns an ihm, indem<br />
wir nur an das Gewitter selbst denken. „Aber während des Gewitters fühlt der Mensch seine<br />
eigene Nichtigkeit vor den Naturmächten, und die Naturmächte scheinen ihm seine eigene<br />
Kraft maßlos zu übersteigen.“ Daß die Kräfte des Gewitters unsere eigenen Kräfte maßlos zu<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013