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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 170<br />
habenen, wenn es furchtbar ist; gewiß verstärkt die dunkle Ungewißheit den durch das Furchtbare<br />
und das Gewaltige hervorgerufenen Eindruck des Erhabenen; aber wenn das Häßliche<br />
nicht furchtbar ist, wird es einfach widerwärtig oder unschön; und das Dunkle, Ungewisse übt<br />
keine ästhetische Wirkung aus, wenn es nicht gewaltig oder furchtbar ist. Das Häßliche oder<br />
das dunkle Ungewisse sind nicht für alle Arten des Erhabenen kennzeichnend; das Häßliche<br />
oder das Ungewisse haben nicht immer den Charakter des Erhabenen. Diese Begriffe sind also<br />
offensichtlich von dem Begriff des Erhabenen verschieden. Streng gesprochen bezieht sich das<br />
„Überwiegen der Idee über die Form“ auf jene Art von Ereignissen in der moralischen und<br />
von Erscheinungen in der materiellen Welt, wo der Gegenstand vom Übermaß der eigenen<br />
Kräfte zerstört wird; unbestreitbar nehmen solche Erscheinungen oft den Charakter von etwas<br />
außerordentlich Erhabenem an; aber nur dann, wenn die Kraft, die das Gefäß, das sie umschließt,<br />
zerstört, schon von vornherein den Charakter des Erhabenen hat, oder wenn der Gegenstand,<br />
der zerstört wird, uns, unabhängig von seinem Untergang durch die eigene Kraft,<br />
schon von vornherein erhaben erscheint. Anders kann vom Erhabenen keine Rede sein. Wenn<br />
der Niagarafall mit der Gewalt seiner eigenen Kräfte die Felsen [379] zerstört, die ihn hervorbringen,<br />
und damit sich selbst aufhebt; wenn Alexander der Große am Übermaß der eigenen<br />
Energie zugrunde geht; wenn Rom unter seiner eigenen Größe zusammenstürzt, so sind das<br />
erhabene Erscheinungen; aber deshalb, weil der Niagarafall, das Römische Reich und die Persönlichkeit<br />
Alexander des Großen schon an und für sich dem Bereich des Erhabenen angehören.<br />
Wie das Leben, so auch der Tod; wie die Tat, so auch der Untergang. Das Geheimnis der<br />
Erhabenheit liegt hier nicht in dem „Überwiegen der Idee über die Erscheinung“, sondern in<br />
dem Charakter der Erscheinung selbst; nur der Größe der zerstörenden Erscheinung entnimmt<br />
auch die Zerstörung ihre Erhabenheit. An und für sich ist das Zugrundegehen an einem Überwiegen<br />
innerer Kräfte über ihre zeitweise Erscheinungsform noch nicht das Kriterium des<br />
Erhabenen. Am klarsten tritt „das Überwiegen der Idee über die Form“ in Erscheinung, wenn<br />
der Keim eines Blattes wachsend die Hülle der Knospe sprengt, die ihn geboren hat; aber diese<br />
Erscheinung gehört keinesfalls in das Gebiet des Erhabenen. Durch das „Überwiegen der Idee<br />
über die Form“, durch das Zugrundegehen des Gegenstandes selbst an einem Übermaß der in<br />
ihm sich entwickelnden Kraft, unterscheidet sich die sogenannte negative Form des Erhabenen<br />
von der positiven. Berechtigtermaßen steht das negative Erhabene höher als das positive Erhabene;<br />
deswegen muß man zugeben, daß durch „das Überwiegen der Idee über die Form“ die<br />
Wirkung des Erhabenen verstärkt wird, wie sie durch viele andere Umstände verstärkt werden<br />
kann, wie zum Beispiel durch die Isoliertheit der erhabenen Erscheinung (die Pyramide in der<br />
offenen Steppe ist gewaltiger, als sie es inmitten anderer Riesenbauten sein würde; zwischen<br />
hohen Hügeln würde ihre Größe verschwinden); der den Effekt verstärkende Umstand ist aber<br />
noch nicht die Quelle des Effektes selbst; dabei ist das Überwiegen der Idee über das Bild, der<br />
Kraft über die Erscheinung sehr häufig nicht etwas positiv Erhabenes. Beispiele hierfür kann<br />
man in großer Zahl in jedem Lehrbuch der Ästhetik finden.<br />
Gehen wir zu der anderen Definition des Erhabenen über: „Das Erhabene ist“, um uns der<br />
Sprache Hegels zu [380] bedienen, „die Erscheinung der Idee des Unendlichen“ oder, indem<br />
wir diese philosophische Formel in die gewöhnliche Sprache übersetzen: „Das Erhabene ist<br />
das, was in uns die Idee des Unendlichen erweckt“. Schon die oberflächliche Betrachtung der<br />
Behandlung des Erhabenen in der modernen Ästhetik bringt uns zur Überzeugung, daß diese<br />
Definition des Erhabenen im Wesen der Hegelschen Auffassung von ihm liegt. Mehr noch:<br />
der Gedanke, daß erhabene Erscheinungen im Menschen das Vorgefühl der Unendlichkeit<br />
erwecken, herrscht auch in den Anschauungen von Leuten vor, die der strengen Wissenschaft<br />
fernstehen; nur selten kann man eine Abhandlung finden, in welcher er nicht ausgesprochen<br />
würde, sobald sich dazu auch nur die entfernteste Gelegenheit bietet; fast in jeder Beschreibung<br />
einer gewaltigen Landschaft, in jeder Erzählung von einem furchtbaren Ereignis finden<br />
wir eine entsprechende Abschweifung oder seine Anwendung. Deshalb muß man dem Ge-<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013