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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 166<br />
ihren Wert verlieren, denn ohne Gesundheit sind auch Wohlleben und Luxus schlecht zu ertragen;<br />
infolgedessen bleiben rote Backen und blühende, gesunde Frische auch für die gute<br />
Gesellschaft anziehende Eigenschaften; aber krankhaftes Aussehen, Schwäche, Mattheit haben<br />
in ihren Augen auch einen Schönheitswert, nämlich sobald sie als die Folge eines untätigen<br />
Luxuslebens erscheinen. Blässe, angegriffenes, kränkliches Aussehen haben für die höhere<br />
Gesellschaft noch eine andere Bedeutung: wenn der Landbewohner Erholung und Ruhe<br />
sucht, so suchen die Menschen der gebildeten Stände, die materielle Not und physische<br />
Müdigkeit nicht kennen, die sich aber dafür aus Untätigkeit und aus Mangel an materiellen<br />
Sorgen oft langweilen, „stärkere Erregungen, Sensationen, Leidenschaften“, die dem sonst<br />
monotonen und farblosen Leben der höheren Gesellschaft Farbe und Mannigfaltigkeit geben<br />
und es anziehend machen. Aber in starken Erregungen und feurigen Leidenschaften verbraucht<br />
sich der Mensch schneller: wie sollte man das angegriffene Aussehen, die Blässe<br />
einer schönen Frau nicht reizend finden, wenn sie das Anzeichen dafür sind, daß sie eine<br />
„Frau mit Vergangenheit“ ist<br />
Gern seh’ ich frische Farben blinken,<br />
der Jugend Zier,<br />
Doch sehnsuchtsblasse Wangen dünken<br />
noch schöner mir. *<br />
Aber wenn die Begeisterung für eine blasse, krankhafte Schönheit das Anzeichen eines<br />
künstlich verdorbenen Geschmackes ist, so fühlt jeder wahrhaft gebildete Mensch, daß [372]<br />
das wahre Leben das Leben des Geistes und des Herzens ist. Dieses Leben spiegelt sich in<br />
den Gesichtszügen, vor allem in den Augen wider; deswegen gewinnt der Gesichtsausdruck,<br />
von dem in den Volksliedern so wenig die Rede ist, eine große Bedeutung in den herrschenden<br />
Schönheitsbegriffen der Gebildeten; und es kommt häufig vor, daß ein Mensch uns nur<br />
deshalb schön erscheint, weil er schöne, ausdrucksvolle Augen hat.<br />
Ich habe, soweit der Platz es mir erlaubte, die wichtigsten Faktoren der menschlichen Schönheit<br />
durchgenommen, und mir scheint, daß sie alle deshalb den Eindruck des Schönen auf uns<br />
machen, weil sie uns das Leben, wie wir es verstehen, zu offenbaren scheinen. Wir müssen<br />
jetzt die entgegengesetzte Seite des Gegenstandes betrachten und untersuchen, was einen<br />
Menschen häßlich macht.<br />
Den Grund für die Häßlichkeit der Gesamtfigur eines Menschen wird jeder darin sehen, daß<br />
der Mensch, der eine schlechte Figur hat, „schlecht gebaut“ ist. Wir wissen sehr gut, daß<br />
Häßlichkeit eine Folge von Krankheit oder von Unglücksfällen ist, wie sie den Menschen<br />
besonders leicht in der ersten Zeit seiner Entwicklung entstellen. Wenn das Leben und seine<br />
Erscheinungen die Schönheit ausmachen, ist es ganz natürlich, daß die Krankheit und ihre<br />
Folgen die Häßlichkeit sind. Aber ein schlechtgehauter Mensch ist auch mißgestaltet, wenngleich<br />
in geringerem Grade, und die Gründe für einen „schlechten Bau“ sind die gleichen wie<br />
die, die Mißgestalten hervorbringen, sie sind nur schwächer. Wenn der Mensch einen Buckel<br />
hat, so ist das die Folge unglücklicher Umstände, unter denen sich das erste Stadium seiner<br />
Entwicklung abspielte; aber ein krummer Rücken ist auch eine Art von Buckligkeit, nur in<br />
geringerem Maße, und muß die gleichen Ursachen haben. Überhaupt ist ein übelgebauter<br />
Mensch in gewissem Grade ein entstellter Mensch; seine Figur zeugt nicht von Leben, nicht<br />
von glücklicher Entwicklung, sondern von einer Entwicklung unter schweren, ungünstigen<br />
Umständen. Gehen wir von dem allgemeinen Umriß der Figur zum Gesicht über. Seine Züge<br />
können unschön entweder an und für sich oder ihrem Ausdruck nach sein. Was uns in einem<br />
Gesicht [373] nicht gefällt, ist ein „böser“, „unangenehmer“ Ausdruck, denn Bosheit ist ein<br />
Gift, das uns das Leben vergällt. Aber viel häufiger ist ein Gesicht nicht so sehr seinem Aus-<br />
* Aus der von W. Shtikowski übersetzten Ballade „Alina und Alsim“, 1814. Die Red.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013