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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 164<br />

Typen ein und derselben Rasse. Noch größer ist die Verschiedenheit der Schönheitstypen<br />

beim Menschen, und wir können uns gar nicht einmal vorstellen, daß alle Nuancen der<br />

menschlichen Schönheit in einem einzigen Menschen vereinigt sein könnten.<br />

Die Aussage: „Schön wird die vollkommene Offenbarung der Idee im einzelnen Gegenstand<br />

genannt“, ist durchaus keine Bestimmung des Schönen. Aber sie enthält eine richtige Seite,<br />

nämlich, daß „das Schöne“ ein einzelner lebendiger Gegenstand und nicht ein abstrakter Gedanke<br />

ist: sie deutet auch noch auf eine Eigentümlichkeit wahrhaft künstlerischer Schöpfungen<br />

hin: sie haben stets etwas zum Inhalt, was für den Menschen überhaupt und nicht nur allein für<br />

den Künstler von Interesse ist (dieser Hinweis liegt darin, daß die Idee „etwas Allgemeines,<br />

immer und überall Wirksames“ ist); woher das kommt, werden wir weiter unten sehen.<br />

Einen völlig anderen Sinn hat eine andere Aussage, welche als mit der ersten identisch hingestellt<br />

wird: „Das Schöne ist die Einheit von Idee und Bild, die völlige Verschmelzung der<br />

Idee mit dem Bild“ * ; diese Aussage betrifft wirklich ein wesentliches Merkmal – jedoch nicht<br />

der Idee des Schönen überhaupt, sondern dessen, was man Kunstwerk [368] nennt: schön ist<br />

ein Kunstwerk wirklich nur dann, wenn der Künstler in seinem Werk alles das zum Ausdruck<br />

gebracht hat, was er hat ausdrücken wollen. Natürlich ist ein Porträt nur dann gut, wenn der<br />

Maler es verstanden hat, genau denjenigen Menschen zu malen, den er malen wollte. Aber<br />

„ein Gesicht schön malen“ und „ein schönes Gesicht malen“ sind zwei völlig verschiedene<br />

Dinge. Von dieser Eigenschaft des Kunstwerks wird bei der Bestimmung des Wesens der<br />

Kunst zu sprechen sein. Ich halte es jedoch für angebracht, hier zu bemerken, daß in der Bestimmung<br />

des Schönen als Einheit von Idee und Bild – in dieser Bestimmung, die nicht das<br />

Schöne in der lebendigen Natur, sondern das Schöne im Kunstwerk meint – schon der Keim<br />

oder das Resultat derjenigen Richtung verborgen liegt, die in der Ästhetik gewöhnlich dem<br />

Schönen in der Kunst vor dem Schönen in der lebendigen Wirklichkeit den Vorzug gibt.<br />

Was ist denn nun aber eigentlich das Schöne, wenn es nicht als „Einheit von Idee und Bild“ oder<br />

als „vollkommene Offenbarung der Idee im einzelnen Gegenstand“ bestimmt werden kann<br />

Neues läßt sich nicht so leicht aufbauen, wie Altes sich umstoßen läßt, und die Verteidigung<br />

ist nicht so leicht wie der Angriff; deshalb kann es sehr wohl sein, daß die Auffassung vom<br />

Wesen des Schönen, welche mir als die richtige erscheint, nicht jedermann befriedigen wird;<br />

aber wenn die aus der heute vorherrschenden Betrachtungsweise der Beziehung des menschlichen<br />

Denkens zur lebendigen Wirklichkeit abgeleiteten ästhetischen Anschauungen in meiner<br />

Darstellung noch unvollständig, einseitig oder unsicher geblieben sind, so ist dies, will<br />

ich hoffen, ein Mangel nicht der Anschauungen selber, sondern nur meiner Darstellung.<br />

Die Empfindung, die das Schöne im Menschen hervorruft, ist eine helle Freude, ähnlich der,<br />

mit der uns die Gegenwart eines geliebten Wesens erfüllt. ** Wir lieben das Schöne [369] uneigennützig,<br />

wir empfinden Wohlgefallen, wir erfreuen uns an ihm, so wie wir uns an einem<br />

geliebten Menschen freuen. Daraus folgt, daß das Schöne etwas enthält, was unserem Herzen<br />

lieb und wert ist. Aber dieses „Etwas“ muß etwas außerordentlich Umfassendes sein, etwas,<br />

was imstande ist, die allerverschiedensten Formen anzunehmen, etwas außerordentlich All-<br />

* Hier und weiter oben gibt Tschernyschewski eine kritische Analyse der Definition des Schönen, wie es in der<br />

idealistischen Ästhetik des Hegelianers Vischer behandelt wird. (Siebe: F. Th. Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft<br />

des Schönen, Erster Teil, „Die Metaphysik des Schönen“. § 13, S. 53; § 74, S. 189; § 51, S. 141; § 44, S.<br />

128.) Die Red.<br />

** Ich rede von dem, was seinem Wesen nach und nicht nur deshalb schön ist, weil es durch die Kunst schön<br />

dargestellt ist; also von schönen Gegenständen und Erscheinungen und nicht von ihrer schönen [369] Darstellung<br />

in Kunstwerken: ein Kunstwerk, das durch seine künstlerischen Qualitäten ästhetisches Wohlgefallen in<br />

uns weckt, kann durch das Wesen des Dargestellten Trauer, ja sogar Abscheu hervorrufen. Das gilt z. B. für<br />

viele Gedichte Lermontows und fast alle Werke Gogols.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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