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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 154<br />
wahrscheinlich machen. Es muß aber gesagt werden, daß es dazu nötig wäre, die Physiologie<br />
des Nervensystems umzubauen und zu beweisen, daß ein Wesen mit einer Körperform, die<br />
der des heutigen Menschen nahekommt, ein Gehirn haben konnte, das weniger hoch organisiert<br />
war als das eines Schafes. Solange das nicht geschieht, solange die Physiologie das zu<br />
sagen fortfährt, was sie heute über die Beziehungen zwischen dem Bau eines menschenähnlichen<br />
Gehirns und menschenähnlichen Körperformen sagt, werden wir annehmen müssen,<br />
was die Physiologie uns heutzutage anzunehmen lehrt, daß nämlich die Wesen, die bereits<br />
Menschen waren, die Schafe an Verstand übertrafen; werden wir ebenso annehmen müssen,<br />
daß die Kinder die-[352]ser Wesen viel längere Zeit mütterliche Fürsorge gebraucht haben<br />
als Lämmer, wobei sich als unzweifelhafte Wahrheit ergibt, daß die Existenz des Menschengeschlechts<br />
damals ebenso wie heute von der Mutterliebe abhing. Nehmen wir im Widerspruch<br />
zur vergleichenden Anatomie sogar an, daß Lebewesen mit menschlicher Körperform<br />
irgendwann einmal auf einer Stufe der geistigen und moralischen Entwicklung standen, die<br />
man als unter der Entwicklungsstufe nicht nur von Schafen, sondern auch von allen anderen<br />
Warmblütern liegend bezeichnen muß. Angenommen, die Menschen hatten damals keine<br />
freundlichen Gefühle füreinander, so lebten sie doch in irgendwelchen Gruppen, wenn diese<br />
auch nur aus je einer Frau und ihren Kindern des Alters bestanden, in dem diese sich noch<br />
nicht selbst Nahrung beschaffen können. Angenommen, diese Mutter liebte diese Kinder<br />
nicht im geringsten; angenommen, sie ließ die Neugeborenen nur aus dem instinktiven Drang<br />
an ihrer Brust saugen, sich von dem bedrückenden Gefühl zu befreien, welches ihr der<br />
Milchüberschuß bereitete; und angenommen schließlich, diese Mutter gab dem Kinde, sobald<br />
sie es einmal mit ihrer Milch zu nähren aufgehört hatte, nichts von ihrer Speise ab, fraß selber,<br />
soviel sie konnte, wobei sie das Kind verjagte, so daß dieses sich nur von den Resten<br />
nährte, die die Mutter nicht selber aufessen konnte; bei alledem lebten ihre Kinder doch<br />
ziemlich lange mit ihr zusammen; sie sahen, was die Mutter tat; mochte sie sich auch nicht<br />
die Mühe geben, die Kinder zu lehren, obwohl sich nicht nur Hunde und Katzen, sondern<br />
sogar die Kühe diese Mühe geben; die Kinder lernten dennoch von ihrem Beispiel, auch<br />
wenn sie sich nicht die Mühe machte, sie zu lehren.<br />
In Wirklichkeit war es natürlich nicht so. Seit es Lebewesen von menschlicher Körperform<br />
auf der Erde gibt, gab es bei ihnen eine gewisse gegenseitige Zuneigung. Dieser von geschlechtlichen<br />
oder verwandtschaftlichen Beziehungen unabhängige Trieb führte dazu, daß<br />
die erwachsenen Männer Gefallen daran fanden, sich miteinander zu unterhalten; wenn ihre<br />
Sprache noch nicht menschlich war, so verstanden sie doch bereits durch Stimmlaute wenigstens<br />
jene Gedanken und Gefühle auszudrücken, die Wölfe, Pferde oder [353] Schafe im Gespräch<br />
miteinander zum Ausdruck bringen, und verstanden es doch, die Laute ihrer Stimme<br />
durch irgendwelche Gesten zu erläutern, wie es alle Säugetiere tun. Aber selbst wenn sie völlig<br />
unfähig waren, ihre Empfindungen auszudrücken und ihre Gedanken auszutauschen, wie<br />
es alle Lebewesen verstehen, die mit Lungen atmen und eine Luftröhre mit Stimmbändern<br />
besitzen, machte es diesen Männern trotzdem Vergnügen, beieinander zu sitzen und einander<br />
anzublicken. Ebenso fanden die Frauen Gefallen daran, zusammenzusitzen. Der Geschlechtstrieb<br />
mußte bei Mann und Frau wenigstens jene Zuneigung entstehen lassen, die zwischen<br />
Tiger und Tigerweibchen besteht. Die Mutter war mit ihrem Kind nicht weniger zärtlich und<br />
auf längere Zeit verbunden, als das Tigerweibchen oder das Schaf mit ihrem Jungen, und es<br />
konnte nicht ausbleiben, daß die Mutter ihr Kind belehrte und daß die Männer Frau und Kind<br />
vor Gefahren schützten. Die freundschaftlichen Gefühle, die seit jenen Zeiten zwischen den<br />
Menschen bestanden, wo überhaupt Lebewesen mit menschlicher Körperform entstanden,<br />
förderten das angeborene Streben jedes Menschen, sein Leben zu verbessern und seine Wißbegier<br />
zu befriedigen. Die Jungen folgten aus natürlichem Trieb dem Beispiel der Älteren;<br />
die Kinder lernten, die jungen Leute sammelten Erfahrungen durch Beobachtung der Handlungen<br />
mehr Erfahrener und waren bemüht, sich deren Lebenskenntnisse anzueignen. Diese<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013