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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 148 ihn davon abzuhalten, daß er sich und anderen Schaden tut. Aber es gibt auch verschiedenerlei Schaden. Wenn es sich um Zwangsmaßnahmen zur Verhinderung von Schaden handelt, versteht sich von selbst, daß es nicht zulässig ist, einen geringeren Schaden zu verhindern, indem man einen größeren anrichtet. Zwang ist seinem Wesen nach immer schädlich; er kränkt den Betroffenen und Bestraften, er verdirbt seinen Charakter, weckt Ärger gegen die, die verbieten und bestrafen, und treibt ihn bis zu feindlichen Zusammenstößen mit diesen. Deshalb halten verständige Eltern und andere erwachsene Verwandte und Erzieher die Anwendung von [340] Zwangsmaßnahmen einem zehnjährigen Knaben gegenüber nur in den wenigen, allerwichtigsten Fällen für zulässig, in denen die betreffenden Handlungen ihm, nach ihrer Meinung, Schaden zufügen. Ist der Schaden nicht besonders ernst, so wirken sie auf den Knaben nur dadurch ein, daß sie ihm Ratschläge und die Gelegenheit geben, sich das Schädliche abzugewöhnen: sie sind mit Recht der Meinung, daß kleine Unarten, die kein besonderes Unglück weder für den Knaben selbst noch für andere Menschen mit sich bringen, keinen Anlaß zu Drohungen oder Strafen geben sollten; das Leben selber wird ihm diese Unarten schon austreiben, denken sie, helfen mit guten Ratschlägen, bemühen sich, dem Streichemacher andere, bessere Zerstreuungen zu geben, und lassen es hierbei bewenden. Zweifellos gibt es übrigens Fälle, in denen das Verbotene mehr Schaden anrichtet als das Verbot. In diesen Fällen sind Zwangsmaßnahmen vor der Vernunft gerechtfertigt und vom Gewissen vorgeschrieben; natürlich mit der Einschränkung, daß sie nicht strenger sind und den davon betroffenen Knaben nicht mehr beeinträchtigen, als es zu seinem Nutzen nötig ist. Angenommen zum Beispiel, ein Erzieher hat die Aufsicht über einen Haufen Knaben bekommen, die die Gewohnheit haben, mit Steinen und Knüppeln aufeinander loszugehen. Er ist verpflichtet, diese Schlägereien, bei denen es häufig zu Verletzungen, manchmal sogar zu tödlichen kommt, zu verbieten. Handelt es sich um derlei Dinge, wenn man versucht, Zwangsmaßnahmen gegen die mit Kindern gleichgesetzten einfachen Leute oder Wilden unter Berufung auf die Pflicht des Erziehers zu rechtfertigen, Kindern Handlungen zu verbieten, die ihnen Schaden bringen Nein, derartige Überlegungen können sich nicht auf Tatsachen dieser Art beziehen. Erstens gäbe es, wenn diese Tatsachen gemeint wären, nichts zu streiten, nichts zu beweisen; das Recht einer Regierung, Schlägereien zu verbieten, wird von niemandem geleugnet; zweitens darf man, wenn es sich um das Verbot von Schlägereien handelt, nicht im einzelnen über ein Verbot für irgendeine besondere Kategorie von Menschen reden: es kann sich dabei nur um alle Menschen handeln, die in Schlägereien verwickelt sind; ihre Bildungsstufe ist dabei [341] völlig gleichgültig, sie prügeln einander und das genügt: wer sie auch sein mögen, Standespersonen oder einfache Leute, Gelehrte oder Dummköpfe – die Schlägerei muß auf jeden Fall eingestellt werden. Und hat etwa nur die Regierung das Recht, ihr Einhalt zu gebieten Nein; jedem verständigen Menschen befiehlt das Gewissen, jeder Schlägerei, die er sieht, nach Möglichkeit ein Ende zu machen, und die Gesetze aller zivilisierten Länder geben jeden recht, der diese Gewissenspflicht erfüllt. Wozu erst lange darüber reden, daß auch eine Regierung das Recht hat, Schlägereien zu unterbinden In allen zivilisierten Ländern besteht, von der ganzen Bevölkerung gutgeheißen, das Gesetz, welches der Regierung nicht nur das Recht gibt, nein, ihr sogar die Verpflichtung auferlegt, Schlägereien zu unterbinden. In jedem zivilisierten Land fordert die gesamte Bevölkerung ständig, daß die Regierung dieses Gesetz einhält. Und in jedem zivilisierten Land gilt es gleichermaßen für die gesamte Bevölkerung; es gibt in bezug auf Schlägereien keine Sondervorrechte oder Einschränkungen, für keinerlei Klasse von Menschen, mögen sie vom Stande oder von geringer Herkunft, gebildet oder ungebildet sein, es gibt sie nicht und es braucht sie nicht zu geben. In keinem einzigen zivilisierten Lande gibt es über das alles keine Meinungsverschiedenheiten. Wozu dann überhaupt im besonderen von den einfachen Leuten reden und davon, daß die einfachen Leute wie Kinder sind, und daß die Regierung sich wie ein Schullehrer dieser angeblichen Schüler – dieser soliden Männer und grauköpfigen Greise – zu gebärden hat, wozu davon reden, wenn mit dieser angeblichen Ähnlichkeit der einfachen Leute mit Kindern nur bewiesen werden soll, daß die Regierung das Recht OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 149 hat, Schlägereien unter einfachen Leuten zu unterbinden Es ist klar, daß die Liebhaber des Vergleichs der einfachen Leute mit Kindern nicht an das Verbot von Schlägereien denken, sondern an etwas ganz anderes; sie möchten, daß die einfachen Leute so leben, wie sie es sich ausgedacht haben, sie möchten die Sitten und Gewohnheiten des Volkes nach ihrem Gutdünken ummodeln. Nehmen wir an, daß alle Züge der Lebensweise der einfachen Leute, die ihnen nicht gefallen, wirklich schlecht sind, und daß alle [342] Regeln der Lebenshaltung, die sie an Stelle jener Züge setzen wollen, wirklich an und für sich gut sind. Sie sind dennoch Anhänger der Gewalt und bleiben deshalb, mögen sie auch die Sprache der zivilisierten Gesellschaft sprechen, im tiefsten Herzen Menschen aus der Zeit der Barbarei. In allen zivilisierten Ländern hat die Masse der Bevölkerung noch viele üble Gewohnheiten. Sie mit Gewalt ausrotten heißt aber, dem Volk noch üblere Verhaltungsweisen beibringen, heißt, es mit Gewalt an Betrug, Heuchelei, Gewissenlosigkeit gewöhnen. Die Menschen legen schlechte Gewohnheiten nur dann ab, wenn sie selber den Wunsch dazu haben; sie nehmen gute Gewohnheiten nur dann an, wenn sie selbst begreifen, daß sie gut sind, und es selbst für möglich halten, sie anzunehmen. Diese beiden Bedingungen enthalten vollauf den Kern der Sache: daß der Mensch das Gute erkennt und daß er es für möglich hält, es sich anzueignen; dieser Wunsch, es sich anzueignen, kann und wird dem Menschen niemals fehlen. Das Gute nicht zu wollen, liegt nicht in der Natur des Menschen, denn es liegt nicht in der Natur irgendeines Lebewesens. Es ist auch ohne Worte klar, daß Lebewesen, die wie der Mensch mit Lungen atmen und ein hochentwickeltes Nervensystem besitzen, sich das Gute wünschen; sehen wir uns die Bewegungen des Wurms an: selbst er kriecht von dem weg, was ihm schlecht erscheint, zu dem hin, was ihm gut erscheint. Der Drang nach dem, was gut erscheint, ist eine Grundeigenschaft der Natur aller Lebewesen. Wenn wir, die aufgeklärten Menschen irgendeines Volkes, der Masse unserer Stammesgenossen, die üble, für sie selber schädliche Gewohnheiten hat, Gutes wünschen, besteht unsere Pflicht darin, diese Masse mit dem Guten bekannt zu machen und dafür zu sorgen, daß sie die Möglichkeit erhält, sich das Gute anzueignen. Zu Gewalt greifen, ist hier völlig unangebracht. Wenn der Ersetzung des Schlechten durch das Gute nur die Unkenntnis des Guten im Wege steht, können wir unseren Wunsch, das Leben unserer Stammesgenossen zu verbessern, leicht erfüllen; die Wahrheiten, die sie kennenlernen müssen, sind keine verzwickten fachwissenschaftlichen Theoreme, sondern die Regeln der [343] Lebensweisheit, die jeder Erwachsene, selbst der ungebildetste, unschwer begreifen kann. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, den einfachen Leuten klarzumachen, daß das Schlechte schädlich und das Gute nützlich ist; die überwiegende Mehrzahl der einfachen Leute jedes Volkes unserer europäischen Zivilisation kennt die wichtigsten Wahrheiten dieser Art sehr gut. Sie wünscht selbst, ihre schlechten Gewohnheiten durch gute zu ersetzen, und setzt diesen ihren Wunsch nur deshalb nicht in die Tat um, weil sie nicht die Mittel hat, so zu leben, wie sie es für gut und wünschenswert hält. Sie braucht nicht gute Lehren, sondern die Möglichkeit, die Mittel zur Ersetzung des Schlechten durch das Gute zu erwerben. Die Minderheit, die nach Regeln leben möchte, die den aufgeklärten Menschen mit Recht als schlecht erscheinen, ist in jeder der zivilisierten Nationen der Welt zahlenmäßig verschwindend klein; sie besteht aus Menschen, die sowohl bei der Masse der einfachen Leute als bei der Masse der gebildeten Gesellschaft als schlechte Menschen gelten. Mit Ausnahme dieser wenigen moralisch kranken Menschen haben alle übrigen einfachen Leute ebenso wie alle übrigen gebildeten Menschen den Wunsch, gut zu handeln; und wenn sie schlecht handeln, so tun sie es nur deshalb, weil ihre schlechten Lebensverhältnisse sie zu schlechten Handlungen zwingen; sie leiden alle darunter und möchten ihre Lebensverhältnisse gern so verbessern, daß sie nicht zu schlechten Handlungen getrieben werden. Die Pflicht der Menschen, die ihrem Volke Gutes tun wollen, besteht darin, die Verwirklichung dieses Wunsches der überwiegenden Mehrheit der Menschen aller Stände zu fördern. Nicht Gewaltan- OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 148<br />

ihn davon abzuhalten, daß er sich und anderen Schaden tut. Aber es gibt auch verschiedenerlei<br />

Schaden. Wenn es sich um Zwangsmaßnahmen zur Verhinderung von Schaden handelt, versteht<br />

sich von selbst, daß es nicht zulässig ist, einen geringeren Schaden zu verhindern, indem man<br />

einen größeren anrichtet. Zwang ist seinem Wesen nach immer schädlich; er kränkt den Betroffenen<br />

und Bestraften, er verdirbt seinen Charakter, weckt Ärger gegen die, die verbieten und<br />

bestrafen, und treibt ihn bis zu feindlichen Zusammenstößen mit diesen. Deshalb halten verständige<br />

Eltern und andere erwachsene Verwandte und Erzieher die Anwendung von [340]<br />

Zwangsmaßnahmen einem zehnjährigen Knaben gegenüber nur in den wenigen, allerwichtigsten<br />

Fällen für zulässig, in denen die betreffenden Handlungen ihm, nach ihrer Meinung, Schaden<br />

zufügen. Ist der Schaden nicht besonders ernst, so wirken sie auf den Knaben nur dadurch<br />

ein, daß sie ihm Ratschläge und die Gelegenheit geben, sich das Schädliche abzugewöhnen: sie<br />

sind mit Recht der Meinung, daß kleine Unarten, die kein besonderes Unglück weder für den<br />

Knaben selbst noch für andere Menschen mit sich bringen, keinen Anlaß zu Drohungen oder<br />

Strafen geben sollten; das Leben selber wird ihm diese Unarten schon austreiben, denken sie,<br />

helfen mit guten Ratschlägen, bemühen sich, dem Streichemacher andere, bessere Zerstreuungen<br />

zu geben, und lassen es hierbei bewenden. Zweifellos gibt es übrigens Fälle, in denen das<br />

Verbotene mehr Schaden anrichtet als das Verbot. In diesen Fällen sind Zwangsmaßnahmen vor<br />

der Vernunft gerechtfertigt und vom Gewissen vorgeschrieben; natürlich mit der Einschränkung,<br />

daß sie nicht strenger sind und den davon betroffenen Knaben nicht mehr beeinträchtigen, als es<br />

zu seinem Nutzen nötig ist. Angenommen zum Beispiel, ein Erzieher hat die Aufsicht über einen<br />

Haufen Knaben bekommen, die die Gewohnheit haben, mit Steinen und Knüppeln aufeinander<br />

loszugehen. Er ist verpflichtet, diese Schlägereien, bei denen es häufig zu Verletzungen,<br />

manchmal sogar zu tödlichen kommt, zu verbieten. Handelt es sich um derlei Dinge, wenn man<br />

versucht, Zwangsmaßnahmen gegen die mit Kindern gleichgesetzten einfachen Leute oder Wilden<br />

unter Berufung auf die Pflicht des Erziehers zu rechtfertigen, Kindern Handlungen zu verbieten,<br />

die ihnen Schaden bringen Nein, derartige Überlegungen können sich nicht auf Tatsachen<br />

dieser Art beziehen. Erstens gäbe es, wenn diese Tatsachen gemeint wären, nichts zu streiten,<br />

nichts zu beweisen; das Recht einer Regierung, Schlägereien zu verbieten, wird von niemandem<br />

geleugnet; zweitens darf man, wenn es sich um das Verbot von Schlägereien handelt,<br />

nicht im einzelnen über ein Verbot für irgendeine besondere Kategorie von Menschen reden: es<br />

kann sich dabei nur um alle Menschen handeln, die in Schlägereien verwickelt sind; ihre Bildungsstufe<br />

ist dabei [341] völlig gleichgültig, sie prügeln einander und das genügt: wer sie auch<br />

sein mögen, Standespersonen oder einfache Leute, Gelehrte oder Dummköpfe – die Schlägerei<br />

muß auf jeden Fall eingestellt werden. Und hat etwa nur die Regierung das Recht, ihr Einhalt zu<br />

gebieten Nein; jedem verständigen Menschen befiehlt das Gewissen, jeder Schlägerei, die er<br />

sieht, nach Möglichkeit ein Ende zu machen, und die Gesetze aller zivilisierten Länder geben<br />

jeden recht, der diese Gewissenspflicht erfüllt. Wozu erst lange darüber reden, daß auch eine<br />

Regierung das Recht hat, Schlägereien zu unterbinden In allen zivilisierten Ländern besteht,<br />

von der ganzen Bevölkerung gutgeheißen, das Gesetz, welches der Regierung nicht nur das<br />

Recht gibt, nein, ihr sogar die Verpflichtung auferlegt, Schlägereien zu unterbinden. In jedem<br />

zivilisierten Land fordert die gesamte Bevölkerung ständig, daß die Regierung dieses Gesetz<br />

einhält. Und in jedem zivilisierten Land gilt es gleichermaßen für die gesamte Bevölkerung; es<br />

gibt in bezug auf Schlägereien keine Sondervorrechte oder Einschränkungen, für keinerlei Klasse<br />

von Menschen, mögen sie vom Stande oder von geringer Herkunft, gebildet oder ungebildet<br />

sein, es gibt sie nicht und es braucht sie nicht zu geben. In keinem einzigen zivilisierten Lande<br />

gibt es über das alles keine Meinungsverschiedenheiten. Wozu dann überhaupt im besonderen<br />

von den einfachen Leuten reden und davon, daß die einfachen Leute wie Kinder sind, und daß<br />

die Regierung sich wie ein Schullehrer dieser angeblichen Schüler – dieser soliden Männer und<br />

grauköpfigen Greise – zu gebärden hat, wozu davon reden, wenn mit dieser angeblichen Ähnlichkeit<br />

der einfachen Leute mit Kindern nur bewiesen werden soll, daß die Regierung das Recht<br />

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