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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 147<br />

den wie die Älteren; es bedarf deshalb keines Zwanges, wenn die Kinder und die heranwachsenden<br />

Jungen oder Mädchen sich so entwickeln sollen, wie es die Älteren wünschen: sie neigen<br />

selber in hohem Maße dazu; zu ihrer Erziehung bedarf es nicht des Zwanges, sondern nur<br />

einer wohlwollenden Förderung dessen, was sie selber wünschen; hindert die Kinder nicht<br />

daran, kluge und ehrliche Menschen zu werden – das ist die Grundforderung der modernen<br />

Pädagogik; unterstützt ihre Entwicklung nach bestem Vermögen – fügt sie hinzu –‚ seid euch<br />

aber klar darüber, daß ungenügende Unterstützung ihnen weniger schadet als Gewaltanwendung;<br />

wenn ihr nicht anders vorzugehen versteht als mit Zwang, dann ist es für die Kinder<br />

besser, ganz ohne eure Unterstützung auszukommen, als zwangsweise unterstützt zu werden.<br />

[338] Wir haben dieses Grundprinzip der Pädagogik deshalb in Erinnerung gerufen, weil es auch<br />

heute noch üblich ist, fremde unkultivierte Stämme und die unteren Schichten der eigenen Nation<br />

mit Kindern zu vergleichen und aus diesem Vergleich Rechte abzuleiten: für die gebildeten<br />

Nationen das Recht, in der Lebensweise der ihrer Macht unterstellten, nicht zivilisierten Völker<br />

gewaltsame Veränderungen vorzunehmen und für die im Staate herrschenden aufgeklärten<br />

Stände das Recht, auf die gleiche Weise mit den Lebensverhältnissen der ungebildeten Masse<br />

der eigenen Nation zu Verfahren. Diese Ableitung ist schon deshalb falsch, weil der Vergleich<br />

volljähriger ungebildeter Menschen mit Kindern eine leere rhetorische Figur ist, die zwei völlig<br />

verschiedene Kategorien Von Wesen einander gleichsetzt. Die rohsten Wilden sind durchaus<br />

keine Kinder, sondern ebenso erwachsene Menschen wie wir; noch weniger haben die einfachen<br />

Leute der zivilisierten Nationen mit Kindern gemein. Aber nehmen wir einen Augenblick an,<br />

der falsche Vergleich sei nicht falsch, sondern richtig. Dann gibt es dennoch selbst den alleraufgeklärtesten<br />

und wohlmeinendsten Menschen nicht die geringste Vollmacht, gewaltsam jene<br />

Seiten im Leben der einfachen Leute oder selbst der Wilden zu verändern, die gemeint sind,<br />

wenn man die willkürlichen Eingriffe in ihre Lebensweise zu rechtfertigen sucht. Angenommen,<br />

sie sind kleine Kinder (vermutlich übrigens nicht mehr grade Säuglinge, denn sie nähren sich<br />

nicht von der Milch der Weiber ihrer aufgeklärten Pfleger, sondern nehmen ihre Speise selber in<br />

die Hand und kauen sie mit den eignen Zähnen). Angenommen, wir sind die allerzärtlichsten<br />

Väter dieser vermutlich nicht erst zwei Monate, sondern mindestens zwei Jahre alten Kinderchen;<br />

was folgt daraus Gestattet die Pädagogik einem Vater, ein zweijähriges Kind in seinen<br />

Bewegungen mehr zu behindern als nötig ist, um Arme und Beine, Stirn und Augen des Kleinen<br />

heil zu erhalten Gestattet sie, dieses Kleine dazu zu zwingen, daß es nichts tut, was nicht auch<br />

sein Vater tut, und alles tut, was er tut Der Vater gebraucht beim Essen die Gabel, muß er ein<br />

zweijähriges Kind dafür prügeln, daß es mit der Hand nach dem Essen greift „Aber [339] das<br />

Kleine verbrennt sich an dem Stück Braten die Fingerchen.“ Soll es sich ruhig verbrennen, das<br />

ist nicht so schlimm wie Prügel. Die Leute, die die Wilden oder die einfachen Leute so gern mit<br />

Kindern vergleichen, geben übrigens den Gegenständen ihrer zärtlichen Sorge, die den Acker<br />

pflügen oder das Vieh hüten oder auch nur Beeren sammeln, um sich zu ernähren, vermutlich<br />

mindestens ein Alter von zehn Jahren. Einverstanden; und welche Rechte hat ein Vater – von<br />

einem außenstehenden Erzieher ganz zu schweigen – über ein zehnjähriges Kind Hat er auch<br />

nur das Recht, es zum Lernen zu zwingen Die Pädagogik lehrt: „Nein, wenn ein zehnjähriger<br />

Knabe ungern lernt, so ist nicht er daran schuld, sondern sein Erzieher, der durch schlechte Unterrichtsmethoden<br />

oder durch Unterrichtsinhalte, die sich für den Zögling nicht eignen, im Schüler<br />

die Wißbegier erstickt. Hier kommt es nicht darauf an, den Zögling zu etwas zu zwingen,<br />

vielmehr muß sich der Erzieher selber umerziehen und umlernen: er muß aufhören, ein langweiliger,<br />

unfähiger, strenger Pedant zu sein, und muß zum gütigen und verständigen Lehrer werden,<br />

muß die wilden Vorstellungen über Bord werfen, die den gesunden Menschenverstand in seinem<br />

Kopf verdrängen, und sich dafür vernünftige Begriffe zulegen. Sobald der Lehrer diese<br />

Forderung der Wissenschaft erfüllt, wird der Knabe wieder gern alles lernen, was der Lehrer,<br />

zum verständigen und gütigen Menschen geworden, ihm beizubringen für nötig halten wird. Die<br />

Zwangsgewalt erwachsener Menschen über einen zehnjährigen Knaben beschränkt sich darauf,<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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