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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 146 auf der einmal erreichten Höhe verbleiben kann, wenn er selbst es wünscht und sich aus freiem Willen darum bemüht. Wirklich wissen wir alle auf Grund alltäglicher Beobachtungen, daß ein Gelehrter, wenn ihm die Liebe zur Wissenschaft abhanden kommt, sehr bald auch sein erworbenes Wissen verliert und nach und nach zum Ignoranten wird. Das gleiche gilt für die anderen Seiten der Zivilisation. Wenn ein Mensch zum Beispiel die Liebe zur Ehrlichkeit verliert, wird er sich schnell zu einer solchen Menge schlechter Handlungen hinreißen lassen, daß er die Gewohnheit ehrlichen Verhaltens im Leben verliert. Kein [336] äußerlicher Zwang kann einen solchen Menschen weder auf geistiger noch auf moralischer Höhe erhalten, wenn er nicht selber auf ihr verbleiben will. Zu jenen Zeiten, als in der Pädagogik Zwangssysteme herrschten, hieß es, die Menschen – im vorliegenden Fall die noch nicht erwachsenen Menschen, die Kinder – lernten lesen, schreiben, rechnen usw. nur unter Zwang, aus Angst, für Faulheit bestraft zu werden. Heute weiß jedermann, daß das durchaus nicht zutrifft, daß jedes gesunde Kind eine angeborene Wißbegier besitzt und – wenn nicht ungünstige äußere Umstände diesen Drang ersticken – gern lernt und an der Erwerbung von Kenntnissen Freude hat. Die Menschen, die in den historischen Ereignissen handelnd auftreten, sind nicht Kinder, sondern Menschen, deren Geist und Wille stärker ist als der von Kindern. Wenn das Leben eines Kindes in materieller Hinsicht einigermaßen zufriedenstellend und in geistiger Hinsicht nicht allzu übel verlaufen ist, kommt mit Erreichung der Jünglingsjahre ein Mensch zustande, der die Dinge vernünftiger ansieht und sich verständiger zu benehmen weiß als fünf Jahre früher. Ganz allgemein gesprochen, weiß ein zehnjähriges Kind mehr, urteilt verständiger und hat einen ausgeprägteren Charakter als ein fünfjähriges, und ein heranwachsender fünfzehnjähriger Jüngling ist in allen diesen Eigenschaften einem zehnjährigen Knaben weit überlegen, und wenn sein Leben in den folgenden Jahren nicht gar zu übel verläuft, so wird er mit zwanzig Jahren ein Mensch sein, der noch mehr weiß, noch klüger und verständiger ist und einen noch festeren Willen besitzt. Weniger schnell schreitet der Mensch in geistiger und moralischer Beziehung fort, wenn er seine volle körperliche Entwicklung erreicht hat; aber wie auch die physischen Kräfte des Menschen ziemlich lange nach Erreichung der Volljährigkeit zu wachsen fortfahren, wachsen aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl seine geistigen Kräfte als auch die Fähigkeit weiter, in der Durchführung seiner Pläne und Absichten fest zu sein. Man darf annehmen, daß das Wachsen der Kräfte gewöhnlich mit dreißig Jahren zum Stillstand kommt, unter günstigen Lebensumständen aber noch einige Jahre länger anhält. Nachdem es aufgehört hat, [337] halten sich die physischen, geistigen und moralischen Kräfte des Menschen ziemlich lange annähernd auf dem höchsten erreichten Niveau, und der Verfall der geistigen und moralischen Kräfte beginnt beim gesunden Menschen erst, wenn der Organismus hinsichtlich der physischen Kräfte schwach zu werden beginnt. Das ist heutzutage die Auffassung der Naturforscher, die den menschlichen Organismus studieren. Mit wieviel Jahren beginnt der Mensch sich in bezug auf Geist und moralische Kraft vollentwickelten Menschen gegenüber für ebenbürtig zu halten Die Eigenliebe läßt den Menschen gewöhnlich früher auf diesen Gedanken kommen, als es gerechtermaßen der Fall sein sollte. Aber die überwiegende Mehrzahl der Menschen, die von den Erwachsenen minderjährig genannt werden, hat dennoch immer die Neigung, dem Beispiel der Erwachsenen zu folgen, und junge Burschen von fünfzehn Jahren sind zum Beispiel ganz allgemein bestrebt, ihren erwachsenen Verwandten und Bekannten nachzueifern. Wir wissen also von der Mehrheit der Menschen, auch derjenigen, die der Volljährigkeit ziemlich nahekommen, ganz positiv, daß ihre Entwicklung durch die Eigenschaften der älteren Generation bestimmt wird. Wie in der Kindheit haben sie auch dann, wenn sie ein ziemlich hohes physisches Wachstum erreicht und ziemlich bedeutende physische Kräfte erworben haben, noch immer die Neigung, so zu wer- OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 147 den wie die Älteren; es bedarf deshalb keines Zwanges, wenn die Kinder und die heranwachsenden Jungen oder Mädchen sich so entwickeln sollen, wie es die Älteren wünschen: sie neigen selber in hohem Maße dazu; zu ihrer Erziehung bedarf es nicht des Zwanges, sondern nur einer wohlwollenden Förderung dessen, was sie selber wünschen; hindert die Kinder nicht daran, kluge und ehrliche Menschen zu werden – das ist die Grundforderung der modernen Pädagogik; unterstützt ihre Entwicklung nach bestem Vermögen – fügt sie hinzu –‚ seid euch aber klar darüber, daß ungenügende Unterstützung ihnen weniger schadet als Gewaltanwendung; wenn ihr nicht anders vorzugehen versteht als mit Zwang, dann ist es für die Kinder besser, ganz ohne eure Unterstützung auszukommen, als zwangsweise unterstützt zu werden. [338] Wir haben dieses Grundprinzip der Pädagogik deshalb in Erinnerung gerufen, weil es auch heute noch üblich ist, fremde unkultivierte Stämme und die unteren Schichten der eigenen Nation mit Kindern zu vergleichen und aus diesem Vergleich Rechte abzuleiten: für die gebildeten Nationen das Recht, in der Lebensweise der ihrer Macht unterstellten, nicht zivilisierten Völker gewaltsame Veränderungen vorzunehmen und für die im Staate herrschenden aufgeklärten Stände das Recht, auf die gleiche Weise mit den Lebensverhältnissen der ungebildeten Masse der eigenen Nation zu Verfahren. Diese Ableitung ist schon deshalb falsch, weil der Vergleich volljähriger ungebildeter Menschen mit Kindern eine leere rhetorische Figur ist, die zwei völlig verschiedene Kategorien Von Wesen einander gleichsetzt. Die rohsten Wilden sind durchaus keine Kinder, sondern ebenso erwachsene Menschen wie wir; noch weniger haben die einfachen Leute der zivilisierten Nationen mit Kindern gemein. Aber nehmen wir einen Augenblick an, der falsche Vergleich sei nicht falsch, sondern richtig. Dann gibt es dennoch selbst den alleraufgeklärtesten und wohlmeinendsten Menschen nicht die geringste Vollmacht, gewaltsam jene Seiten im Leben der einfachen Leute oder selbst der Wilden zu verändern, die gemeint sind, wenn man die willkürlichen Eingriffe in ihre Lebensweise zu rechtfertigen sucht. Angenommen, sie sind kleine Kinder (vermutlich übrigens nicht mehr grade Säuglinge, denn sie nähren sich nicht von der Milch der Weiber ihrer aufgeklärten Pfleger, sondern nehmen ihre Speise selber in die Hand und kauen sie mit den eignen Zähnen). Angenommen, wir sind die allerzärtlichsten Väter dieser vermutlich nicht erst zwei Monate, sondern mindestens zwei Jahre alten Kinderchen; was folgt daraus Gestattet die Pädagogik einem Vater, ein zweijähriges Kind in seinen Bewegungen mehr zu behindern als nötig ist, um Arme und Beine, Stirn und Augen des Kleinen heil zu erhalten Gestattet sie, dieses Kleine dazu zu zwingen, daß es nichts tut, was nicht auch sein Vater tut, und alles tut, was er tut Der Vater gebraucht beim Essen die Gabel, muß er ein zweijähriges Kind dafür prügeln, daß es mit der Hand nach dem Essen greift „Aber [339] das Kleine verbrennt sich an dem Stück Braten die Fingerchen.“ Soll es sich ruhig verbrennen, das ist nicht so schlimm wie Prügel. Die Leute, die die Wilden oder die einfachen Leute so gern mit Kindern vergleichen, geben übrigens den Gegenständen ihrer zärtlichen Sorge, die den Acker pflügen oder das Vieh hüten oder auch nur Beeren sammeln, um sich zu ernähren, vermutlich mindestens ein Alter von zehn Jahren. Einverstanden; und welche Rechte hat ein Vater – von einem außenstehenden Erzieher ganz zu schweigen – über ein zehnjähriges Kind Hat er auch nur das Recht, es zum Lernen zu zwingen Die Pädagogik lehrt: „Nein, wenn ein zehnjähriger Knabe ungern lernt, so ist nicht er daran schuld, sondern sein Erzieher, der durch schlechte Unterrichtsmethoden oder durch Unterrichtsinhalte, die sich für den Zögling nicht eignen, im Schüler die Wißbegier erstickt. Hier kommt es nicht darauf an, den Zögling zu etwas zu zwingen, vielmehr muß sich der Erzieher selber umerziehen und umlernen: er muß aufhören, ein langweiliger, unfähiger, strenger Pedant zu sein, und muß zum gütigen und verständigen Lehrer werden, muß die wilden Vorstellungen über Bord werfen, die den gesunden Menschenverstand in seinem Kopf verdrängen, und sich dafür vernünftige Begriffe zulegen. Sobald der Lehrer diese Forderung der Wissenschaft erfüllt, wird der Knabe wieder gern alles lernen, was der Lehrer, zum verständigen und gütigen Menschen geworden, ihm beizubringen für nötig halten wird. Die Zwangsgewalt erwachsener Menschen über einen zehnjährigen Knaben beschränkt sich darauf, OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

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Willen darum bemüht. Wirklich wissen wir alle auf Grund alltäglicher Beobachtungen,<br />

daß ein Gelehrter, wenn ihm die Liebe zur Wissenschaft abhanden kommt, sehr bald auch<br />

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die anderen Seiten der Zivilisation. Wenn ein Mensch zum Beispiel die Liebe zur Ehrlichkeit<br />

verliert, wird er sich schnell zu einer solchen Menge schlechter Handlungen hinreißen lassen,<br />

daß er die Gewohnheit ehrlichen Verhaltens im Leben verliert. Kein [336] äußerlicher Zwang<br />

kann einen solchen Menschen weder auf geistiger noch auf moralischer Höhe erhalten, wenn<br />

er nicht selber auf ihr verbleiben will.<br />

Zu jenen Zeiten, als in der Pädagogik Zwangssysteme herrschten, hieß es, die Menschen – im<br />

vorliegenden Fall die noch nicht erwachsenen Menschen, die Kinder – lernten lesen, schreiben,<br />

rechnen usw. nur unter Zwang, aus Angst, für Faulheit bestraft zu werden. Heute weiß<br />

jedermann, daß das durchaus nicht zutrifft, daß jedes gesunde Kind eine angeborene Wißbegier<br />

besitzt und – wenn nicht ungünstige äußere Umstände diesen Drang ersticken – gern<br />

lernt und an der Erwerbung von Kenntnissen Freude hat.<br />

Die Menschen, die in den historischen Ereignissen handelnd auftreten, sind nicht Kinder, sondern<br />

Menschen, deren Geist und Wille stärker ist als der von Kindern. Wenn das Leben eines<br />

Kindes in materieller Hinsicht einigermaßen zufriedenstellend und in geistiger Hinsicht nicht<br />

allzu übel verlaufen ist, kommt mit Erreichung der Jünglingsjahre ein Mensch zustande, der<br />

die Dinge vernünftiger ansieht und sich verständiger zu benehmen weiß als fünf Jahre früher.<br />

Ganz allgemein gesprochen, weiß ein zehnjähriges Kind mehr, urteilt verständiger und hat<br />

einen ausgeprägteren Charakter als ein fünfjähriges, und ein heranwachsender fünfzehnjähriger<br />

Jüngling ist in allen diesen Eigenschaften einem zehnjährigen Knaben weit überlegen,<br />

und wenn sein Leben in den folgenden Jahren nicht gar zu übel verläuft, so wird er mit zwanzig<br />

Jahren ein Mensch sein, der noch mehr weiß, noch klüger und verständiger ist und einen<br />

noch festeren Willen besitzt. Weniger schnell schreitet der Mensch in geistiger und moralischer<br />

Beziehung fort, wenn er seine volle körperliche Entwicklung erreicht hat; aber wie auch<br />

die physischen Kräfte des Menschen ziemlich lange nach Erreichung der Volljährigkeit zu<br />

wachsen fortfahren, wachsen aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl seine geistigen Kräfte als<br />

auch die Fähigkeit weiter, in der Durchführung seiner Pläne und Absichten fest zu sein. Man<br />

darf annehmen, daß das Wachsen der Kräfte gewöhnlich mit dreißig Jahren zum Stillstand<br />

kommt, unter günstigen Lebensumständen aber noch einige Jahre länger anhält. Nachdem es<br />

aufgehört hat, [337] halten sich die physischen, geistigen und moralischen Kräfte des Menschen<br />

ziemlich lange annähernd auf dem höchsten erreichten Niveau, und der Verfall der<br />

geistigen und moralischen Kräfte beginnt beim gesunden Menschen erst, wenn der Organismus<br />

hinsichtlich der physischen Kräfte schwach zu werden beginnt. Das ist heutzutage die<br />

Auffassung der Naturforscher, die den menschlichen Organismus studieren.<br />

Mit wieviel Jahren beginnt der Mensch sich in bezug auf Geist und moralische Kraft vollentwickelten<br />

Menschen gegenüber für ebenbürtig zu halten Die Eigenliebe läßt den Menschen<br />

gewöhnlich früher auf diesen Gedanken kommen, als es gerechtermaßen der Fall sein sollte.<br />

Aber die überwiegende Mehrzahl der Menschen, die von den Erwachsenen minderjährig genannt<br />

werden, hat dennoch immer die Neigung, dem Beispiel der Erwachsenen zu folgen, und<br />

junge Burschen von fünfzehn Jahren sind zum Beispiel ganz allgemein bestrebt, ihren erwachsenen<br />

Verwandten und Bekannten nachzueifern. Wir wissen also von der Mehrheit der Menschen,<br />

auch derjenigen, die der Volljährigkeit ziemlich nahekommen, ganz positiv, daß ihre<br />

Entwicklung durch die Eigenschaften der älteren Generation bestimmt wird. Wie in der Kindheit<br />

haben sie auch dann, wenn sie ein ziemlich hohes physisches Wachstum erreicht und<br />

ziemlich bedeutende physische Kräfte erworben haben, noch immer die Neigung, so zu wer-<br />

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