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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 145<br />
Verstand noch eine so hohe Bildung besitzen; es ist heute jedoch allgemein anerkannt, daß<br />
alle derartige Handlungen nur das Resultat von Umständen sind, die der normalen Entwicklung<br />
des Seelenlebens dieses Menschen hemmend im Wege gestanden haben. An und für sich<br />
hat die geistige Entwicklung die Tendenz, die Auffassung eines Menschen von seinen Pflichten<br />
anderen Menschen gegenüber [334] zu veredeln, ihn gütiger zu machen und die Begriffe<br />
der Gerechtigkeit und Ehrlichkeit in ihm zu entwickeln.<br />
Jede Wandlung im Leben eines Volkes ist die Summe der Wandlungen im Leben der diese<br />
Nation bildenden Einzelmenschen. Wenn wir daher bestimmen wollen, welche Umstände die<br />
Verbesserung des geistigen und moralischen Lebens einer Nation fördern und welche nicht,<br />
müssen wir untersuchen, von welchen Umständen die Verbesserung oder Verschlechterung<br />
der geistigen oder moralischen Eigenschaften des Einzelmenschen abhängt.<br />
In alten Zeiten waren Fragen dieser Art sehr verdunkelt durch die rohen Vorstellungen, die<br />
die Mehrheit der Gelehrten aus dem barbarischen Altertum der Nation übernommen hatte.<br />
Heute gibt es in dieser Beziehung in theoretischer Hinsicht keine Schwierigkeiten mehr. Die<br />
Grundwahrheiten sind für die Mehrheit der aufgeklärten Menschen der fortgeschrittenen Nationen<br />
klar, und die Minderheit, die findet, daß diese Wahrheiten nicht ihrem eignen privaten<br />
Vorteil entsprechen, schämt sich bereits, sie zu leugnen, und ist deshalb gezwungen, den<br />
Kampf gegen sie mit kasuistischen Mitteln zu führen: sie sagt, sie teile im allgemeinen die<br />
ehrlichen Überzeugungen der Mehrheit und bemüht sich nur zu beweisen, daß diese Wahrheiten<br />
sich nicht in vollem Umfang auf den betreffenden Einzelfall anwenden lassen, in dem<br />
sie im Widerspruch zu den Interessen der Minderheit stehen. Derartige Vorbehalte kann man<br />
stets in großer Zahl antreffen, aber für jeden, der nicht persönlich daran interessiert ist, sie<br />
begründet zu nennen, ist offensichtlich, daß sie falsch sind.<br />
In den allerfinstersten Zeiten des Mittelalters herrschte unter den Gelehrten die Auffassung,<br />
der Mensch neige von Natur aus zum Bösen und werde nur durch Zwang gut. In Anwendung<br />
dieser Auffassung auf die Frage der geistigen Entwicklung behaupteten die Pädagogen jener<br />
Zeit, der Unterricht in theoretischen Fächern könne nur dann Erfolg haben, wenn er von härtesten<br />
Strafen begleitet sei. Die Gelehrten, die in ihren Schriften das moralische Leben der<br />
Gesellschaft behandelten, sagten ebenso, die Masse der Menschen neige dazu, ein lasterhaftes<br />
Leben zu führen und [335] alle erdenklichen Verbrechen zu begehen, die öffentliche Ordnung<br />
beruhe daher einzig auf Unterdrückung, und nur die Gewalt mache die Menschen arbeitsam<br />
und ehrlich. Alle Auffassungen dieser Art gelten heutzutage als im Widerspruch zur<br />
menschlichen Natur stehendes dummes Zeug.<br />
Die erste der Wissenschaften von den Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens, die exakte<br />
Formeln für die Voraussetzung des Fortschritts aufstellte, war die politische Ökonomie. Als<br />
unerschütterliches Grundprinzip jeder Lehre vom menschlichen Wohlergehen stellte sie die<br />
Wahrheit auf, daß nur die freiwillige Betätigung des Menschen zu guten Resultaten führt, daß<br />
alles, was der Mensch unter äußerem Zwang tut, schlecht ausfällt, daß der Mensch erfolgreich<br />
nur das tut, was er selbst will. Die politische Ökonomie verwendet diesen allgemeinen<br />
Gedanken zur Erklärung der Gesetze, die die materielle Tätigkeit des Menschen erfolgreich<br />
machen, indem sie beweist, daß alle Formen unfreiwilliger Arbeit unproduktiv sind und daß<br />
materieller Wohlstand nur bei einer Gesellschaft möglich ist, in der die Menschen den Acker<br />
pflügen, Kleider herstellen und Häuser bauen, weil jeder einzelne davon überzeugt ist, daß<br />
die Beschäftigung mit der von ihm verrichteten Arbeit für ihn von Nutzen ist.<br />
Andere Zweige der Gesellschaftswissenschaft wenden das gleiche Prinzip auf die Frage der<br />
Erwerbung und Erhaltung geistiger und moralischer Güter an und sind heute zu der Erkenntnis<br />
gelangt, daß gebildet und moralisch nur diejenigen Menschen werden, die selbst danach<br />
streben, und daß der Mensch nur dann in dieser Hinsicht nicht nur aufsteigen, sondern auch<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013