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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 144 schieden sind. Ein Teil von ihnen besteht aus [332] Menschen, die mit ihrer Unwissenheit und moralischen Roheit auf einer Stufe mit den unwissendsten und grausamsten Wilden steht; andere Teile nehmen die verschiedensten Mittelstufen zwischen diesen niedrigsten und den besten Vertretern ihrer Nation ein. Wenn es deshalb von einer Nation heißt, sie habe eine hohe Bildungsstufe erreicht, bedeutet das nicht, daß alle Menschen, aus denen sie besteht, hinsichtlich ihrer Gewohnheiten und ihrer geistigen Entwicklung viel höher stehen als die Wilden, dadurch jedoch, daß diese Nation hochzivilisiert genannt wird, ist bereits die Meinung ausgesprochen, daß die Mehrheit der sie bildenden Menschen durch ihre geistige Entwicklung und die Qualität ihrer geistigen Gewohnheiten den Wilden weit voraus ist. Alle ernst zu nehmenden Gelehrten sind sich heutzutage einig in der Anerkennung der Wahrheit, daß alle Eigenschaften, durch die die zivilisierten Menschen die rohsten und unwissendsten wilden Stämme überragen, historisch erworbene Besonderheiten sind. Es fragt sich nun, dem Einfluß welcher Elemente diese Verbesserung der Vorstellungen und Gewohnheiten zuzuschreiben ist Um klarzumachen, wie diese Frage ihrem Wesen nach notwendig zu beantworten ist, wollen wir sie breiter stellen: fragen wir uns nicht, welche Elemente dazu beigetragen haben, einige Menschen in geistiger und moralischer Beziehung über einige andere Menschen emporzuheben, sondern fragen wir ganz allgemein, was die Ursache ist, daß das Leben der Menschen sich über das Leben anderer Lebewesen, deren Körper in analoger Weise organisiert ist, erhoben hat. Die Antwort ist seit unvordenklichen Zeiten allen Menschen bekannt, die geistig so weit entwickelt sind, daß sie den Unterschied zwischen dem Menschen und den sogenannten unvernünftigen Tieren erkennen. Jeder von uns weiß, daß alles, was das menschliche Leben dem Leben der Säugetiere, die keinen so starken Verstand besitzen wie der Mensch, voraus hat, das Resultat der geistigen Überlegenheit des Menschen ist. Diese allgemein bekannte und anerkannte Antwort auf [333] die allgemeine Frage nach dem Ursprung aller Vorzüge des menschlichen Lebens schließt ganz offenbar auch die Antwort auf die besondere Frage ein, welche Kraft im Leben der Völker den Fortschritt bewirkt: die Grundkraft, die dem menschlichen Dasein seinen hohen Rang verliehen hat, ist die geistige Entwicklung der Menschen. Selbstverständlich kann der Mensch wie jede andere auch seine geistige Kraft so mißbrauchen, daß sie, sei es anderen Menschen, sei es sogar ihm selber, nicht Nutzen, sondern Schaden bringt. So fallen zum Beispiel die Interessen eines ehrgeizigen Menschen gewöhnlich nicht mit dem Wohl seiner Nation zusammen, und er bedient sich seiner geistigen Überlegenheit über ihre Masse zu deren Schaden; falls er Erfolg hat, gewöhnt er sich oft daran, seinen Leidenschaften so die Zügel schießen zu lassen, daß er seine eigene geistige und schließlich auch physische Gesundheit zerstört; das ist mit einzelnen Menschen geschehen, die sich vom Ehrgeiz hinreißen ließen, aber auch mit ganzen Völkern. So haben die Athener die anderen Griechen und schließlich sich selber zugrunde gerichtet, indem sie ihre geistige Überlegenheit über die Mehrheit der anderen Griechen mißbrauchten; so haben später die Römer alle zivilisierten Völker und sich selber zugrunde gerichtet, indem sie ihre geistige Überlegenheit über die Spanier, Gallier und die anderen wenig gebildeten Völker Europas und der mit Europa benachbarten Teile Afrikas und Asiens mißbrauchten. Die Kraft des Geistes kann zu schädlichen Resultaten führen und tut das häufig auch; aber sie tut es nur unter dem Druck von Kräften oder Umständen, die ihre ursprüngliche Natur entstellen. Unter dem Einfluß von Leidenschaften kann ein kluger und aufgeklärter Mensch sehr viel übler handeln als die große Mehrzahl seiner Landsleute, die weder einen so starken naturgegebenen OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 145 Verstand noch eine so hohe Bildung besitzen; es ist heute jedoch allgemein anerkannt, daß alle derartige Handlungen nur das Resultat von Umständen sind, die der normalen Entwicklung des Seelenlebens dieses Menschen hemmend im Wege gestanden haben. An und für sich hat die geistige Entwicklung die Tendenz, die Auffassung eines Menschen von seinen Pflichten anderen Menschen gegenüber [334] zu veredeln, ihn gütiger zu machen und die Begriffe der Gerechtigkeit und Ehrlichkeit in ihm zu entwickeln. Jede Wandlung im Leben eines Volkes ist die Summe der Wandlungen im Leben der diese Nation bildenden Einzelmenschen. Wenn wir daher bestimmen wollen, welche Umstände die Verbesserung des geistigen und moralischen Lebens einer Nation fördern und welche nicht, müssen wir untersuchen, von welchen Umständen die Verbesserung oder Verschlechterung der geistigen oder moralischen Eigenschaften des Einzelmenschen abhängt. In alten Zeiten waren Fragen dieser Art sehr verdunkelt durch die rohen Vorstellungen, die die Mehrheit der Gelehrten aus dem barbarischen Altertum der Nation übernommen hatte. Heute gibt es in dieser Beziehung in theoretischer Hinsicht keine Schwierigkeiten mehr. Die Grundwahrheiten sind für die Mehrheit der aufgeklärten Menschen der fortgeschrittenen Nationen klar, und die Minderheit, die findet, daß diese Wahrheiten nicht ihrem eignen privaten Vorteil entsprechen, schämt sich bereits, sie zu leugnen, und ist deshalb gezwungen, den Kampf gegen sie mit kasuistischen Mitteln zu führen: sie sagt, sie teile im allgemeinen die ehrlichen Überzeugungen der Mehrheit und bemüht sich nur zu beweisen, daß diese Wahrheiten sich nicht in vollem Umfang auf den betreffenden Einzelfall anwenden lassen, in dem sie im Widerspruch zu den Interessen der Minderheit stehen. Derartige Vorbehalte kann man stets in großer Zahl antreffen, aber für jeden, der nicht persönlich daran interessiert ist, sie begründet zu nennen, ist offensichtlich, daß sie falsch sind. In den allerfinstersten Zeiten des Mittelalters herrschte unter den Gelehrten die Auffassung, der Mensch neige von Natur aus zum Bösen und werde nur durch Zwang gut. In Anwendung dieser Auffassung auf die Frage der geistigen Entwicklung behaupteten die Pädagogen jener Zeit, der Unterricht in theoretischen Fächern könne nur dann Erfolg haben, wenn er von härtesten Strafen begleitet sei. Die Gelehrten, die in ihren Schriften das moralische Leben der Gesellschaft behandelten, sagten ebenso, die Masse der Menschen neige dazu, ein lasterhaftes Leben zu führen und [335] alle erdenklichen Verbrechen zu begehen, die öffentliche Ordnung beruhe daher einzig auf Unterdrückung, und nur die Gewalt mache die Menschen arbeitsam und ehrlich. Alle Auffassungen dieser Art gelten heutzutage als im Widerspruch zur menschlichen Natur stehendes dummes Zeug. Die erste der Wissenschaften von den Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens, die exakte Formeln für die Voraussetzung des Fortschritts aufstellte, war die politische Ökonomie. Als unerschütterliches Grundprinzip jeder Lehre vom menschlichen Wohlergehen stellte sie die Wahrheit auf, daß nur die freiwillige Betätigung des Menschen zu guten Resultaten führt, daß alles, was der Mensch unter äußerem Zwang tut, schlecht ausfällt, daß der Mensch erfolgreich nur das tut, was er selbst will. Die politische Ökonomie verwendet diesen allgemeinen Gedanken zur Erklärung der Gesetze, die die materielle Tätigkeit des Menschen erfolgreich machen, indem sie beweist, daß alle Formen unfreiwilliger Arbeit unproduktiv sind und daß materieller Wohlstand nur bei einer Gesellschaft möglich ist, in der die Menschen den Acker pflügen, Kleider herstellen und Häuser bauen, weil jeder einzelne davon überzeugt ist, daß die Beschäftigung mit der von ihm verrichteten Arbeit für ihn von Nutzen ist. Andere Zweige der Gesellschaftswissenschaft wenden das gleiche Prinzip auf die Frage der Erwerbung und Erhaltung geistiger und moralischer Güter an und sind heute zu der Erkenntnis gelangt, daß gebildet und moralisch nur diejenigen Menschen werden, die selbst danach streben, und daß der Mensch nur dann in dieser Hinsicht nicht nur aufsteigen, sondern auch OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 144<br />

schieden sind. Ein Teil von ihnen besteht aus [332] Menschen, die mit ihrer Unwissenheit<br />

und moralischen Roheit auf einer Stufe mit den unwissendsten und grausamsten Wilden<br />

steht; andere Teile nehmen die verschiedensten Mittelstufen zwischen diesen niedrigsten und<br />

den besten Vertretern ihrer Nation ein.<br />

Wenn es deshalb von einer Nation heißt, sie habe eine hohe Bildungsstufe erreicht, bedeutet<br />

das nicht, daß alle Menschen, aus denen sie besteht, hinsichtlich ihrer Gewohnheiten und<br />

ihrer geistigen Entwicklung viel höher stehen als die Wilden, dadurch jedoch, daß diese Nation<br />

hochzivilisiert genannt wird, ist bereits die Meinung ausgesprochen, daß die Mehrheit der<br />

sie bildenden Menschen durch ihre geistige Entwicklung und die Qualität ihrer geistigen Gewohnheiten<br />

den Wilden weit voraus ist.<br />

Alle ernst zu nehmenden Gelehrten sind sich heutzutage einig in der Anerkennung der Wahrheit,<br />

daß alle Eigenschaften, durch die die zivilisierten Menschen die rohsten und unwissendsten<br />

wilden Stämme überragen, historisch erworbene Besonderheiten sind.<br />

Es fragt sich nun, dem Einfluß welcher Elemente diese Verbesserung der Vorstellungen und<br />

Gewohnheiten zuzuschreiben ist<br />

Um klarzumachen, wie diese Frage ihrem Wesen nach notwendig zu beantworten ist, wollen<br />

wir sie breiter stellen: fragen wir uns nicht, welche Elemente dazu beigetragen haben, einige<br />

Menschen in geistiger und moralischer Beziehung über einige andere Menschen emporzuheben,<br />

sondern fragen wir ganz allgemein, was die Ursache ist, daß das Leben der Menschen<br />

sich über das Leben anderer Lebewesen, deren Körper in analoger Weise organisiert ist, erhoben<br />

hat. Die Antwort ist seit unvordenklichen Zeiten allen Menschen bekannt, die geistig<br />

so weit entwickelt sind, daß sie den Unterschied zwischen dem Menschen und den sogenannten<br />

unvernünftigen Tieren erkennen.<br />

Jeder von uns weiß, daß alles, was das menschliche Leben dem Leben der Säugetiere, die<br />

keinen so starken Verstand besitzen wie der Mensch, voraus hat, das Resultat der geistigen<br />

Überlegenheit des Menschen ist.<br />

Diese allgemein bekannte und anerkannte Antwort auf [333] die allgemeine Frage nach dem<br />

Ursprung aller Vorzüge des menschlichen Lebens schließt ganz offenbar auch die Antwort<br />

auf die besondere Frage ein, welche Kraft im Leben der Völker den Fortschritt bewirkt: die<br />

Grundkraft, die dem menschlichen Dasein seinen hohen Rang verliehen hat, ist die geistige<br />

Entwicklung der Menschen. Selbstverständlich kann der Mensch wie jede andere auch seine<br />

geistige Kraft so mißbrauchen, daß sie, sei es anderen Menschen, sei es sogar ihm selber,<br />

nicht Nutzen, sondern Schaden bringt. So fallen zum Beispiel die Interessen eines ehrgeizigen<br />

Menschen gewöhnlich nicht mit dem Wohl seiner Nation zusammen, und er bedient sich<br />

seiner geistigen Überlegenheit über ihre Masse zu deren Schaden; falls er Erfolg hat, gewöhnt<br />

er sich oft daran, seinen Leidenschaften so die Zügel schießen zu lassen, daß er seine eigene<br />

geistige und schließlich auch physische Gesundheit zerstört; das ist mit einzelnen Menschen<br />

geschehen, die sich vom Ehrgeiz hinreißen ließen, aber auch mit ganzen Völkern. So haben<br />

die Athener die anderen Griechen und schließlich sich selber zugrunde gerichtet, indem sie<br />

ihre geistige Überlegenheit über die Mehrheit der anderen Griechen mißbrauchten; so haben<br />

später die Römer alle zivilisierten Völker und sich selber zugrunde gerichtet, indem sie ihre<br />

geistige Überlegenheit über die Spanier, Gallier und die anderen wenig gebildeten Völker<br />

Europas und der mit Europa benachbarten Teile Afrikas und Asiens mißbrauchten. Die Kraft<br />

des Geistes kann zu schädlichen Resultaten führen und tut das häufig auch; aber sie tut es nur<br />

unter dem Druck von Kräften oder Umständen, die ihre ursprüngliche Natur entstellen. Unter<br />

dem Einfluß von Leidenschaften kann ein kluger und aufgeklärter Mensch sehr viel übler<br />

handeln als die große Mehrzahl seiner Landsleute, die weder einen so starken naturgegebenen<br />

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