15.01.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 142<br />

Volkes verschieden vor sich gingen. Genaue Charakteristiken können sich deshalb nur auf<br />

die einzelnen Menschengruppen beziehen, die das betreffende Volk bilden, und nur auf einzelne<br />

Perioden seiner Geschichte.<br />

Der Versuch, die Geschichte eines Volkes aus besonderen, unveränderlichen geistigen und<br />

moralischen Eigenschaften zu erklären, führt dazu, daß man die Gesetze der menschlichen<br />

Natur vergißt. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit den wirklichen oder vermeintlichen Unterschieden<br />

der betrachteten Gegenstände zuwenden, gewöhnen wir uns daran, jene Eigenschaften<br />

zu übersehen, die ihnen allen gemeinsam sind. Wenn die Gegenstände zu sehr verschiedenen<br />

Kategorien gehören, braucht dieses Vergessen der Richtigkeit unserer Urteile keinen<br />

Abbruch zu tun; wenn wir zum Beispiel von der Pflanze und vom Stein sprechen, brauchen<br />

wir uns nicht ständig daran zu erinnern, daß diese beiden Gegenstände gewisse gemeinsame<br />

Eigenschaften besitzen; der Unterschied zwischen ihnen ist groß, und gewöhnlich ist von<br />

solchen Umständen die Rede, unter denen der Stein Eigenschaften zur Schau trägt, die von<br />

denen der Pflanze verschieden sind. In der Geschichte ist das anders. Alle Lebewesen, von<br />

denen sie berichtet, sind Organismen der gleichen Art; die Unterschiede zwischen ihnen sind<br />

von geringerer Bedeutung als die ihnen gemeinsamen Eigenschaften; die Einflüsse, unter<br />

deren Wirkung Änderungen im Leben dieser Geschöpfe zustande kommen, sind gewöhnlich<br />

derartig, daß sie für jedes von ihnen annähernd die gleichen Folgen haben. Nehmen wir zum<br />

Beispiel die Ernährung. Sie ist bei den verschiedenen Völkern und bei den verschiedenen<br />

Ständen eines Volkes sehr ungleichartig. Unterschiedlich ist auch die Menge gleicher Nahrung,<br />

die Erwachsene von nicht gleichartiger Lebensweise brauchen, um satt zu werden und<br />

gesund zu bleiben. Aber jeder Mensch wird durch ungenügende Nahrung geschwächt, und<br />

jeder Mensch wird schlechter Stimmung, wenn ihn der Hunger quält.<br />

[329] Die allen gesunden Erwachsenen gemeinsame Fähigkeit der Magentätigkeit verdient<br />

viel mehr Berücksichtigung als die echten oder phantastischen Unterschiede, die sich aus den<br />

verschiedenen Gewohnheiten verschiedener Menschen, diese oder eine andere Art Nahrung zu<br />

sich zu nehmen, ableiten lassen. Die Gewohnheit macht Menschen Situationen erträglich, die<br />

für Menschen, die nicht daran gewöhnt sind, unerträglich wären. Aber so stark auch die Gewohnheit<br />

sein mag, die allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Natur behalten doch ihre<br />

Ansprüche. Der Mensch kann niemals den Drang verlieren, sein Leben zu verbessern, und<br />

wenn wir dieses Streben bei manchen Menschen nicht beobachten, so nur, weil wir nicht verstehen,<br />

ihre Gedanken zu erraten, die sie uns aus irgendwelchen Gründen, meist aber in dem<br />

Glauben verheimlichen, daß es doch nutzlos ist, von Dingen zu reden, die unmöglich sind.<br />

Wenn ein Mensch sich an seine Lage gewöhnt hat, geht sein Wunsch, sein Leben zu verbessern,<br />

gewöhnlich nur ein wenig über das Niveau seiner gewohnten Lage hinaus. So hat zum<br />

Beispiel der Ackersmann nur den Wunsch, daß seine Arbeit entweder ein bißchen leichter wird<br />

oder ihm einen etwas höheren Entgelt einbringt. Das bedeutet nicht, daß in ihm kein neuer<br />

Wunsch aufkommen wird, sobald sein heutiger Wunsch in Erfüllung geht. Er möchte bei seinen<br />

Wünschen nur vernünftig bleiben und meint, zu viel zu wünschen sei unverständig. Wenn<br />

ein Volk lange Zeit in sehr ärmlichen Verhältnissen gelebt hat, sind seine gewöhnlichen Wünsche<br />

sehr beschränkt. Hieraus folgt nicht, daß es nicht fähig wäre, sehr viel mehr zu wünschen,<br />

sobald seine heutigen Wünsche Erfüllung finden. Wenn wir stets hieran denken, verschwindet<br />

die phantastische Einteilung der Völker in solche, die zu höherer Zivilisation und Kultur fähig<br />

und solche, die dazu unfähig sind; an Stelle dieser Einteilung tritt die Unterscheidung nach Lebenslagen,<br />

die die Entwicklung des Strebens nach Fortschritt fördern, und solchen, die ein Volk<br />

dazu zwingen, nicht an Dinge zu denken, die es nach seiner Meinung nicht erreichen kann.<br />

Wenn die Umstände ein Volk lange daran hindern, seinen früher erworbenen Vorrat an<br />

Kenntnissen zu erweitern, [330] gewöhnt es sich daran, jedes Streben nach solcher Erweite-<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!