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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 141<br />

rer Eigenliebe schmeicheln. Menschen, die unvoreingenommen über andere Völker sprechen<br />

möchten, vermeiden diese Art von allzu willkürlichen Urteilen, begnügen sich mit Kenntnissen,<br />

die wesentlich leichter zu erwerben sind und größere Wahrscheinlichkeit besitzen: sie<br />

studieren die Formen der Lebensweise und die wichtigen Ereignisse im Leben des betreffenden<br />

Volkes und beschränken sich auf jene Urteile über die Eigenschaften der Völker, die sich<br />

unschwer aus diesen zuverlässigen und exakt bestimmten Tatsachen ableiten lassen. Derartige<br />

Urteile sind sehr viel weniger umfassend als die landläufigen Charakteristiken; sie unterscheiden<br />

sich von diesen im wesentlichen dadurch, daß jeder Charakterzug mit einer einschränkenden<br />

Bemerkung darüber hervorgebracht wird, auf welchen Volksteil und auf welche<br />

Zeit sich das Urteil bezieht. Das ist auch das einzig Mögliche, wo es sich um das ernsthafte<br />

Verständnis des Charakters zahlenmäßig großer Menschengruppen handelt.<br />

Wir kennen nicht Eigenschaften der Völker, sondern nur den Stand dieser Eigenschaften zu<br />

einer bestimmten Zeit. Der Stand der geistigen und moralischen Eigenschaften ändert sich<br />

stark unter dem Einfluß der Umstände. Ändern sich die Umstände, so kommt es auch zu entsprechenden<br />

Änderungen im Stand dieser Eigenschaften.<br />

Wir wissen von jedem der heutigen zivilisierten Völker, daß die Formen seiner Lebensweise<br />

ursprünglich anders waren, als sie heute sind. Die Formen der Lebensweise beeinflussen die<br />

moralischen Eigenschaften der Menschen. Mit der Änderung der Formen der Lebensweise<br />

ändern sich auch diese Eigenschaften. Allein schon aus diesem einen Grunde muß jede Charakterisierung<br />

eines zivilisierten Volkes, die diesem irgendeine unveränderliche moralische<br />

Eigenschaft zuschreibt, als falsch betrachtet werden. Mit Ausnahme der Ägypter haben wir<br />

von allen anderen Völkern, die bis zur Zivilisation aufgestiegen sind, positive Kenntnisse aus<br />

den [327] Zeiten, wo sie im Zustand roher Ignoranz lebten. Es genügt daran zu erinnern, daß<br />

die Griechen selbst in der Ilias und Odyssee noch nicht lesen und schreiben können. Analysieren<br />

wir die Überlieferungen, die sich bei den Griechen in der Form der Mythen erhalten<br />

haben, so finden wir Züge einer ausgesprochenen wilden Lebensweise. Viele Gelehrte finden<br />

in diesen Erzählungen sogar Erinnerungen an Kannibalismus. Mag das richtig sein oder nicht,<br />

mögen die Menschen, die bereits griechisch sprachen, Menschenfresser gewesen sein oder<br />

mögen diese Schlußfolgerungen auf Irrtümern beruhen, sicher ist jedenfalls, daß es eine Zeit<br />

gegeben hat, wo die Griechen nichts von irgendwelchen zivilisierten Vorstellungen oder Sitten<br />

und Gebräuchen wußten. Können Vorfahren, die Wilde waren, und Nachkommen, die zu<br />

hoher Zivilisation aufgestiegen sind, noch die gleichen moralischen Eigenschaften besitzen<br />

Erhalten können sich höchstens der physische Typus und jene Züge des Temperaments, die<br />

direkt von ihm abhängen; jedoch auch das ist nur dann richtig, wenn man den Ausdruck<br />

„gleiche“ mit solchen Einschränkungen versieht, die ihm fast seine ganze Bedeutung rauben.<br />

So ist die Farbe der Augen zum Beispiel die gleiche geblieben wie früher, der Ausdruck der<br />

Augen jedoch war früher stumpf, fast stumpfsinnig, hielt aber im folgenden mit der hohen<br />

geistigen Entwicklung Schritt; die Konturen des Profils blieben die gleichen, wurden aber<br />

lieblich, wo sie früher grob waren; gleich blieb auch das leicht aufbrausende Wesen, es äußerte<br />

sich aber viel seltener und in anderen Formen. Wirkten sich die Änderungen in den<br />

Umständen, unter deren Einfluß sich die Formen der Lebensweise änderten, auch in gleicher<br />

Weise auf alle Stände aus Das kann nur in seltenen Fällen vorkommen. Die Sitten und Gebräuche<br />

der verschiedenen Stände veränderten sich ungleichmäßig und verloren deshalb nach<br />

und nach ihre frühere Ähnlichkeit. Das Volk erwarb Wissen, dadurch änderte sich seine Vorstellungswelt;<br />

dank der Änderung seiner Vorstellungswelt wandelten sich die Sitten; auch<br />

diese Änderungen gingen bei den verschiedenen Ständen nicht gleichmäßig vor sich und waren<br />

auch ungleichmäßig in den verschiedenen Landesteilen, die das Volk bewohnte. So zeigt<br />

[328] das Leben eines jeden der heutigen zivilisierten Völker eine Reihe von Wandlungen der<br />

Lebensweise und der Vorstellungswelt, wobei diese Wandlungen in den einzelnen Teilen des<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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