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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 140<br />
Heutzutage verstehen übrigens alle Historiker, wie wichtig die Streitigkeiten der Stände sind,<br />
und wenn sie oft noch vom Volk als von einem einigen Ganzen reden, und zwar beim Bericht<br />
über Angelegenheiten, in denen die verschiedenen Stände nicht gleicher Meinung waren, so<br />
kommt dieser Fehler nicht daher, daß sie es nicht wissen, sondern nur, daß sie es zeitweise<br />
vergessen haben oder daß sonst andere Gründe vorliegen. Vom Charakter der Stände jedoch<br />
macht sich die Mehrheit der Gebildeten und deshalb auch die Mehrzahl der Historiker noch<br />
hochgradig falsche Vorstellungen. Hierfür gibt es zwei Hauptgründe: die Masse des Publikums<br />
und mit ihr die Mehrzahl der Gelehrten weiß sehr wenig von den wirklichen Sitten,<br />
Gebräuchen und von der Begriffswelt jener Klassen, die ihnen in bezug auf soziale Stellung<br />
und Lebensweise fernstehen, und bilden sich dabei ihr Urteil unter dem Eindruck politischer<br />
Standesvorurteile. Nehmen wir als Beispiel die herrschende Vorstellung vom Stand der Landleute.<br />
Im allgemeinen wird angenommen, daß die Landleute reinere Sitten haben als die<br />
Handwerker. In einigen Fällen ist das aller Wahrscheinlichkeit nach auch wohl richtig. Wenn<br />
zum Beispiel die Mehrheit der Landleute ein auskömmliches Leben hat, die Mehrheit der<br />
Handwerker dagegen Not leidet, so werden sich natürlich die aus Anmut entspringenden<br />
schlechten Eigenschaften sehr viel stärker bei den Handwerkern entwickeln als bei den Landleuten.<br />
Die Gelehrten leben im allgemeinen in den Großstädten und sehen daher häufig das<br />
Wohnungselend und die anderen materiellen Nöte der Handwerker. Wie die Leute auf dem<br />
Lande leben, wissen sie viel weniger gut; und es ist sehr wahrscheinlich, daß die privaten<br />
Eindrücke, die sie zufällig von der Lebensweise der Landleute erworben haben, für die [325]<br />
Mehrheit dieses Standes unzutreffend sind. Eine andere Fehlerquelle ist die politische Voreingenommenheit.<br />
Die Dorfbewohner gelten als konservativer Stand; deshalb preisen die<br />
Gelehrten von konservativer Denkweise im allgemeinen die Besonnenheit und Sittenreinheit<br />
des dörflichen Standes; die Gelehrten, die soziale Änderungen herbeiwünschen, denken und<br />
reden über ihn unter dem Einfluß politischer Feindschaft.<br />
Sehr wichtig ist bei jedem zivilisierten Volk neben der Standes- und Berufsteilung die Teilung<br />
nach dem Bildungsgrad. In dieser Hinsicht teilt man die Nation gewöhnlich in drei<br />
Hauptklassen, die die Bezeichnung: ungebildete, oberflächlich gebildete und gründlich gebildete<br />
Menschen tragen. Wir können über den Nutzen oder Schaden der Aufklärung urteilen,<br />
wie wir wollen, wir können die Ignoranz verherrlichen oder sie als schädlich für den Menschen<br />
betrachten; alle sind wir jedoch darin einig, daß sich die überwiegende Mehrheit der<br />
Menschen, die keine Bildung erhalten haben und nicht die Möglichkeit besaßen, aus eigener<br />
Kraft Bildung zu erwerben, sehr stark – ob nach der schlechten oder nach der guten Seite,<br />
davon ist jetzt nicht die Rede, sondern nur davon, daß sie sich ihren Vorstellungen nach stark<br />
von der großen Mehrheit der gebildeten Menschen unterscheidet. Die Begriffswelt der Menschen<br />
macht aber eine der Kräfte aus, die ihr Leben lenken.<br />
Ziehen wir jetzt die Schlußfolgerungen aus diesem Überblick über den wirklichen Stand unserer<br />
Kenntnisse vom Nationalcharakter.<br />
Wir besitzen nur sehr geringe direkte und exakte Kenntnisse von den geistigen und moralischen<br />
Fähigkeiten selbst jener modernen Völker, die wir am besten kennen, und die landläufigen<br />
Vorstellungen von ihrem Charakter sind nicht nur praktisch ungenügend, sondern voreingenommen<br />
und oberflächlich. Diese oberflächliche Betrachtungsweise tritt am häufigsten<br />
in der Form auf, daß zufällig erworbene Kenntnisse von den Eigenschaften irgendeiner zahlenmäßig<br />
kleinen Menschengruppe zur Charakteristik einer ganzen Nation verwendet werden.<br />
Die oberflächlichen und voreingenommenen Charakteristiken der Völker durch richtige<br />
zu ersetzen ist ein sehr mühseliges Geschäft, und die Mehrzahl [326] der Gelehrten hat gar<br />
nicht den ernsten Wunsch, daß das geschieht, weil die Charakteristik eines Volkes gewöhnlich<br />
gar nicht das Ziel verfolgt, eine unvoreingenommene Aussage zu machen, sondern darauf<br />
ausgeht, solche Urteile vorzubringen, die uns entweder vorteilhaft erscheinen oder unse-<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013