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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 14 wicklung hinderte jedoch diese Kräfte daran, sich jene Eigenschaften zu bewahren oder sie zu erwerben, die zum Aufbau eines zusammenhängenden und homogenen philosophischen Systems nötig sind. Er hatte, bevor er Schüler Hegels wurde, zuviel in neueren französischen Philosophen herumgelesen. Als er daranging, Hegels System umzumodeln, verfiel er gar zu oft dem Einfluß von Gedanken, die ihm von früher her aus französischen Büchern geläufig waren. So bildete sich sein eignes System durch Vereinigung der Hegelschen Philosophie mit häufig völlig unwissenschaftlichen Begriffen französischer Philosophen. Man erkennt bei ihm auf Schritt und Tritt einen ungewöhnlich starken Geist, doch gar zu oft macht sich bemerkbar, daß dieser Geist durch Anschauungen gefesselt war, die jeder wissenschaftlichen Begründung entbehren. Das Resultat derartig ungünstiger Umstände war Dunkelheit; er bemerkte das selbst und wollte Dunkelheit entfliehen, indem er entweder mit leidenschaftlichem Haß über die Überlieferung herfiel, die ihn gegen seinen Willen im Bann behielt, oder angestrengt versuchte einen vernünftigen Sinn zu geben. [88] In alledem erkennen wir wieder einmal die allgemeinen Züge jener geistigen Situation, in der sich heutzutage der einfache Mann in Westeuropa befindet. Dank seiner gesunden Natur und seiner harten Lebenserfahrung versteht der einfache Mann in Westeuropa die Dinge eigentlich sehr viel besser, richtiger und tiefer als die Leute aus den mehr vom Glück begünstigten Klassen. Aber ihm fehlt noch die Kenntnis jener wissenschaftlichen Begriffe, die seiner Situation, seinen Neigungen und Bedürfnissen recht eigentlich entsprechen und die, wie uns scheint, der Wahrheit am nächsten kommen oder jedenfalls dem heutigen Stand des Wissens angemessen sind. Da er diese Begriffe nicht kennt, ist er gezwungen, aus Büchern zu lernen, die entweder ausgesprochen übel oder veraltet sind, verbleibt notgedrungen unter dem Einfluß der falschen Anschauungen, die das sogenannte gebildete Publikum beherrschen, wo nur das zur Herrschaft kommt, was in der Wissenschaft längst veraltet ist, muß seine Kräfte im Kampf gegen Vorurteile vergeuden, die von der wahrhaft modernen, jedoch noch nicht bis zu ihm gelangten Wissenschaft längst widerlegt sind, oder muß diesen Vorurteilen unterliegen, von Zornausbrüchen an ihre Adresse zu stiller Unterwerfung übergehen, statt sie kühl beiseite zu schieben als entlarvte Lügen, die für ihn nicht mehr gefährlich wären, sobald er sie als reinen Unsinn erkannt hätte. Deshalb meinen wir, daß weder der Autor des Buches „De la Justice“ noch Mill in der Philosophie als Autoritäten gelten können. Beide sind höchst wichtig für jemanden, der die Richtung des Denkens in bestimmten Ständen der westeuropäischen Gesellschaft kennenlernen möchte: aus Mill erfährt er, wie der anständige Teil der westeuropäischen privilegierten Klassen die geistige Haltung verliert angesichts der Verwirklichung der Ideen, für deren theoretische Berechtigung dieser Teil selber eintritt, da er einsieht, daß sie logisch unwiderleglich sind und zum allgemeinen Besten führen, für diese Stände jedoch ungünstige Folgen haben. Der Autor des Buches „De la Justice“ zeigt, wie schwer es die nach Änderungen dürstenden einfachen Leute bei der Durchführung dieser Änderungen dadurch haben, daß sie, in alten Begriffen aufgewachsen, die ihren Bedürfnissen ent-[89]sprechenden Anschauungen noch nicht kennengelernt haben. Als Repräsentanten dieser durch die moderne Wissenschaft entwickelten Anschauungen können jedoch weder Mill noch Proudhon betrachtet werden. * Deren wahren Repräsentanten muß man nach wie vor in Deutschland suchen. Vielleicht irren * Natürlich meinen wir, wenn wir sagen, daß Mill kein Repräsentant der modernen Philosophie ist, eigentlich jenen Teil der Wissenschaft, den man bei uns Philosophie zu nennen gewohnt ist – die Theorie der Lösung der allerallgemeinsten Probleme der Wissenschaft, die gewöhnlich die metaphysischen genannt werden, wie zum Beispiel der Probleme der Beziehungen zwischen Geist und Materie, der Freiheit des menschlichen Willen der Unsterblichkeit der Seele usw. Mit diesem Teil der Wissenschaft hat Mill sich direkt überhaupt nicht befaßt; er vermeidet es absichtlich, irgendeine Meinung über derartige Dinge zu äußern, grade als betrachte er sie als unzugänglich für die exakte Forschung. Er ist eigentlich kein Philosoph in dem Sinn, in dem man bei uns Kant oder Hegel Philosophen nennt, während man Cuvier oder Liebig nicht als Philosophen bezeichnet (wie man zum Beispiel in England zu tun pflegt). OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 15 wir uns, doch uns scheint, daß Herr Lawrow gezwungen war, sich aus eigenen Kräften zu jenen Lösungen durchzuarbeiten, die die heutige deutsche Philosophie bereits gefunden hatte. Uns scheint, daß der Bekanntschaft mit den neusten deutschen Denkern bei ihm ein Studium von veralteten Formen der deutschen Philosophie und von Büchern englischer und französischer Denker vorausgegangen ist, und wir meinen, er würde ein wenig anders geschrieben haben, wenn es anders gekommen wäre, wenn er die Bücher, die er früher las, ein paar Jahre später gelesen hätte, und wenn er ein paar Jahre früher an die Bücher geraten wäre, die er erst zu einer Zeit gelesen hat, wo die innere Arbeit am Ausbau seiner eigenen Denkweise bereits abgeschlossen war. Wir sagen nicht, daß er zu anderen Anschauungen gelangt wäre – uns scheint, daß seine Anschauungen im wesentlichen richtig sind –‚ sie würden sich ihm jedoch in einfacherer Gestalt darstellen; vielleicht haben wir uns nicht richtig ausgedrückt, und es wäre treffender, wenn wir sagten: er hätte mit größerer Entschiedenheit herausgefunden, daß die von ihm abgelehnte Lüge eine völlig leere Lüge ist, die nur ein mitleidiges Lächeln verdient, nicht aber ernstes Nachdenken darüber, ob man sie unbedingt ablehnen darf. Es ist sehr gut möglich, daß auch seine Darstellungsweise [90] gewonnen hätte und dem großen Publikum zugänglicher geworden wäre, wenn er sich davon überzeugt hätte, daß die Wahrheit einfach ist, und daß die moderne Anschauungsweise allen Grund hatte, den radikalen Bruch mit der leeren Sophistik zu vollziehen, in die sich die alte grobe Lüge kleidet; vielleicht würden seine Aufsätze, die heute allgemeine Beachtung finden, dann mehr von jenem Teil des Publikums gelesen, der nur zu sehr dazu neigt, Bücher und Aufsätze ungelesen zu lassen, die ihm zu große Achtung einflößen. Ohne uns auf eine Kritik der Anschauungen Herrn Lawrows einzulassen, wollen wir versuchen, unsere eigne Auffassung von den gleichen Gegenständen darzulegen; wir glauben, daß sie im wesentlichen die gleiche ist wie die Denkweise Herrn Lawrows; der Unterschied wird fast einzig in der Darstellungsweise und der Art der Fragestellung liegen. Jener Zweig der Philosophie, der die Frage nach dem Menschen behandelt, gründet sich genau so auf die Naturwissenschaften wie der andere Zweig, der die Fragen nach der Außenwelt behandelt. Als Prinzip der philosophischen Auffassung des menschlichen Lebens mit allen seinen Phänomenen dient die von den Naturwissenschaften entwickelte Idee der Einheit des menschlichen Organismus; die Beobachtungen der Physiologen, Zoologen und Mediziner haben jeden Gedanken an einen Dualismus des Menschen beseitigt. Die Philosophie sieht im Menschen das, was Medizin, Physiologie und Chemie in ihm sehen. Diese Wissenschaften bringen den Nachweis, daß sich im Menschen keinerlei Dualismus erkennen läßt, und die Philosophie fügt hinzu, daß, wenn der Mensch außer seiner realen Natur noch eine andere besäße, diese andere Natur sich unbedingt irgendwie kundtun würde; da sie das aber nie und nirgends tut, da alles, was im Menschen vor sich geht und sich offenbart, allein seiner realen Natur entspringt, gäbe es keine andere Natur in ihm. Diese Beweisführung läßt absolut keinen Zweifel aufkommen. Sie ist ebenso überzeugend wie die Gründe, die Sie, geneigter Leser, zum Beispiel sicher sein lassen, daß sich in dem Augenblick, wo Sie dieses Buch lesen, in dem Zimmer, in dem Sie sitzen, kein Löwe befindet. Sie glauben das erstens deshalb, weil Sie keinen Löwen mit [91] Augen sehen und kein Löwengebrüll hören, aber bürgt allein das Ihnen dafür, daß kein Löwe in Ihrem Zimmer ist Nein, Sie haben noch eine andere Bürgschaft: die Tatsache nämlich, daß Sie am Leben sind; befände sich ein Löwe in Ihrem Zimmer, so hätte er sich längst auf Sie gestürzt und Sie zerfleischt. Es fehlen die Folgen, die unvermeidlich zur Anwesenheit eines Löwen gehören, und deshalb wissen Sie auch, daß kein Löwe vorhanden ist. Sagen Sie auch einmal, warum Sie davon überzeugt sind, daß ein Hund nicht reden kann Sie haben niemals einen reden hören; an und für sich wäre das noch ungenügend: Sie sind schon vielen Menschen begegnet, die schwiegen, als Sie sie sahen; sie wollten einfach nicht reden, gekonnt hätten sie es sehr gut: vielleicht will der Hund einfach nicht reden und kann es im Grunde ganz gut So denken Leute mit unentwickeltem Verstand auch wirklich und glauben den Märchen, in denen die Tiere reden; sie OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 14<br />

wicklung hinderte jedoch diese Kräfte daran, sich jene Eigenschaften zu bewahren oder sie zu<br />

erwerben, die zum Aufbau eines zusammenhängenden und homogenen philosophischen Systems<br />

nötig sind. Er hatte, bevor er Schüler Hegels wurde, zuviel in neueren französischen<br />

Philosophen herumgelesen. Als er daranging, Hegels System umzumodeln, verfiel er gar zu<br />

oft dem Einfluß von Gedanken, die ihm von früher her aus französischen Büchern geläufig<br />

waren. So bildete sich sein eignes System durch Vereinigung der Hegelschen Philosophie mit<br />

häufig völlig unwissenschaftlichen Begriffen französischer Philosophen. Man erkennt bei<br />

ihm auf Schritt und Tritt einen ungewöhnlich starken Geist, doch gar zu oft macht sich bemerkbar,<br />

daß dieser Geist durch Anschauungen gefesselt war, die jeder wissenschaftlichen<br />

Begründung entbehren. Das Resultat derartig ungünstiger Umstände war Dunkelheit; er bemerkte<br />

das selbst und wollte Dunkelheit entfliehen, indem er entweder mit leidenschaftlichem<br />

Haß über die Überlieferung herfiel, die ihn gegen seinen Willen im Bann behielt, oder<br />

angestrengt versuchte einen vernünftigen Sinn zu geben.<br />

[88] In alledem erkennen wir wieder einmal die allgemeinen Züge jener geistigen Situation, in<br />

der sich heutzutage der einfache Mann in Westeuropa befindet. Dank seiner gesunden Natur und<br />

seiner harten Lebenserfahrung versteht der einfache Mann in Westeuropa die Dinge eigentlich<br />

sehr viel besser, richtiger und tiefer als die Leute aus den mehr vom Glück begünstigten Klassen.<br />

Aber ihm fehlt noch die Kenntnis jener wissenschaftlichen Begriffe, die seiner Situation,<br />

seinen Neigungen und Bedürfnissen recht eigentlich entsprechen und die, wie uns scheint, der<br />

Wahrheit am nächsten kommen oder jedenfalls dem heutigen Stand des Wissens angemessen<br />

sind. Da er diese Begriffe nicht kennt, ist er gezwungen, aus Büchern zu lernen, die entweder<br />

ausgesprochen übel oder veraltet sind, verbleibt notgedrungen unter dem Einfluß der falschen<br />

Anschauungen, die das sogenannte gebildete Publikum beherrschen, wo nur das zur Herrschaft<br />

kommt, was in der Wissenschaft längst veraltet ist, muß seine Kräfte im Kampf gegen Vorurteile<br />

vergeuden, die von der wahrhaft modernen, jedoch noch nicht bis zu ihm gelangten Wissenschaft<br />

längst widerlegt sind, oder muß diesen Vorurteilen unterliegen, von Zornausbrüchen an<br />

ihre Adresse zu stiller Unterwerfung übergehen, statt sie kühl beiseite zu schieben als entlarvte<br />

Lügen, die für ihn nicht mehr gefährlich wären, sobald er sie als reinen Unsinn erkannt hätte.<br />

Deshalb meinen wir, daß weder der Autor des Buches „De la Justice“ noch Mill in der Philosophie<br />

als Autoritäten gelten können. Beide sind höchst wichtig für jemanden, der die Richtung<br />

des Denkens in bestimmten Ständen der westeuropäischen Gesellschaft kennenlernen<br />

möchte: aus Mill erfährt er, wie der anständige Teil der westeuropäischen privilegierten Klassen<br />

die geistige Haltung verliert angesichts der Verwirklichung der Ideen, für deren theoretische<br />

Berechtigung dieser Teil selber eintritt, da er einsieht, daß sie logisch unwiderleglich<br />

sind und zum allgemeinen Besten führen, für diese Stände jedoch ungünstige Folgen haben.<br />

Der Autor des Buches „De la Justice“ zeigt, wie schwer es die nach Änderungen dürstenden<br />

einfachen Leute bei der Durchführung dieser Änderungen dadurch haben, daß sie, in alten<br />

Begriffen aufgewachsen, die ihren Bedürfnissen ent-[89]sprechenden Anschauungen noch<br />

nicht kennengelernt haben. Als Repräsentanten dieser durch die moderne Wissenschaft entwickelten<br />

Anschauungen können jedoch weder Mill noch Proudhon betrachtet werden. * Deren<br />

wahren Repräsentanten muß man nach wie vor in Deutschland suchen. Vielleicht irren<br />

* Natürlich meinen wir, wenn wir sagen, daß Mill kein Repräsentant der modernen Philosophie ist, eigentlich<br />

jenen Teil der Wissenschaft, den man bei uns Philosophie zu nennen gewohnt ist – die Theorie der Lösung der<br />

allerallgemeinsten Probleme der Wissenschaft, die gewöhnlich die metaphysischen genannt werden, wie zum<br />

Beispiel der Probleme der Beziehungen zwischen Geist und Materie, der Freiheit des menschlichen Willen der<br />

Unsterblichkeit der Seele usw. Mit diesem Teil der Wissenschaft hat Mill sich direkt überhaupt nicht befaßt; er<br />

vermeidet es absichtlich, irgendeine Meinung über derartige Dinge zu äußern, grade als betrachte er sie als unzugänglich<br />

für die exakte Forschung. Er ist eigentlich kein Philosoph in dem Sinn, in dem man bei uns Kant<br />

oder Hegel Philosophen nennt, während man Cuvier oder Liebig nicht als Philosophen bezeichnet (wie man<br />

zum Beispiel in England zu tun pflegt).<br />

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