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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 139<br />
verschwunden oder fast verschwunden sind – es handelt sich ja nicht um die Titel, sondern<br />
um die Gewohnheit, einen hohen Rang in der Gesellschaft zu bekleiden.<br />
Die real wirklich bedeutsamen Sitten und Gebräuche sind bei den verschiedenen Ständen<br />
oder Berufen je nach deren Lebensweise verschieden. Es gibt daneben noch viele andere Gebräuche,<br />
die nicht Standes-, sondern Nationalcharakter haben. Aber das sind Nebensächlichkeiten,<br />
die nur zum Vergnügen oder zum Protzen dienen und um die vernünftige Leute sich<br />
nicht kümmern; sie erhalten sich nur deshalb, weil diese Leute sie als indifferent und nichtssagend<br />
betrachten und ihnen keine Aufmerksamkeit schenken. Für Archäologen mögen solche<br />
Details große Bedeutung haben, wie für den Numismatiker die alten Münzen, die man in<br />
der Erde findet. Aber im ernsten Leben des Volkes ist ihre Bedeutung verschwindend.<br />
Jedes der Völker Westeuropas hat seine besondere Sprache und seinen besonderen nationalen<br />
Patriotismus. Diese zwei Besonderheiten sind die einzigen, durch die es sich jeweils als Ganzes<br />
von allen anderen Völkern Westeuropas unterscheidet. Aber es umfaßt Standes- und Berufsgruppen.<br />
Jede dieser Gruppen hat hinsichtlich aller Formen des geistigen und moralischen<br />
Lebens, Sprache und Nationalgefühl ausgenommen, besonders ausgeprägte, eigene Lebensformen.<br />
In ihnen ähnelt es den entsprechenden Standesgruppen der anderen westlichen Völker;<br />
diese ständischen oder beruflichen Besonderheiten sind so bedeutend, daß jede gegebene<br />
Standes- oder Berufsgruppe eines bestimmten westeuropäischen Volkes, von Sprache und<br />
Patriotismus abgesehen, in geistiger und moralischer Hinsicht weniger den anderen Grup-<br />
[323]pen seines eignen Volkes ähnelt als den entsprechenden Gruppen der anderen westeuropäischen<br />
Völker. Nach Lebensweise und Vorstellungswelt bildet die Klasse der Landleute in<br />
ganz Westeuropa sozusagen ein Ganzes; dasselbe muß man von den Handwerkern, vom<br />
Stand der reichen Bürgen und vom Adelsstand sagen. Ein portugiesischer Edelmann ähnelt<br />
hinsichtlich seiner Lebensweise und Vorstellungswelt wesentlich mehr einem schwedischen<br />
Edelmann als einem Landmann seiner eignen Nation. Ein portugiesischer Landmann ähnelt<br />
in der gleichen Hinsicht mehr einem schottischen oder norwegischen Landmann als einem<br />
reichen Lissabonner Kaufherrn. Nach außen, im internationalen Leben, bildet eine Nation,<br />
die staatliche Einheit besitzt oder nach ihr strebt, wirklich ein Ganzes, wenigstens unter gewöhnlichen<br />
Umständen. Aber nach innen, in ihrem eigenen Leben, besteht sie aus Standesoder<br />
Berufsgruppen, die zueinander in ungefähr den gleichen Beziehungen stehen wie die<br />
verschiedenen Völker. Es hat in der Geschichte allen westeuropäischen Völker Fälle gegeben,<br />
wo eine Nation auch nach außen hin in einander feindliche Teile zerfiel und der schwächere<br />
von ihnen gegen seine inneren Feinde Ausländer zu Hilfe rief oder Ausländer, die, ohne<br />
gerufen zu sein, kamen, um sein Vaterland zu unterwerfen, freudig begrüßte. Heutzutage hat<br />
sich die Bereitschaft des schwächeren Teils einer Nation, sich mit Ausländern zum bewaffneten<br />
Kampf gegen die eigenen Stammesgenossen zusammenzutun, vielleicht gemindert.<br />
Wahrscheinlich ist es keinem Teil irgendeines europäischen Volkes jemals leicht gefallen,<br />
sich zum Verrat am Vaterlande zu entschließen. Aber in alten Zeiten waren die inneren<br />
Kämpfe von solchen wilden Grausamkeiten begleitet, daß die bedrängte Partei aus Verzweiflung<br />
handelte; um dem Tode zu entgehen, sind die Menschen zu Taten bereit, die ihnen sehr<br />
schwerfallen. Wenn es richtig ist, daß in unseren Zeiten bei zivilisierten Völkern im ständischen<br />
und politischen Kampf keine Grausamkeiten mehr möglich sind, die den besiegten<br />
inneren Gegner zur Verzweiflung treiben können, dann wird es auch nicht mehr vorkommen,<br />
daß irgendein Teil einer zivilisierten Nation sich gegen Landsleute mit Fremden verbündet.<br />
[324] Einigen Publizisten scheint diese Hoffnung ziemlich begründet zu sein. Unbestritten ist<br />
aber, daß es bis vor kurzem anders war. Deswegen muß der Historiker, der vom Leben eines<br />
Volkes berichtet, ständig daran denken, daß ein Volk die Vereinigung verschiedener Stände<br />
ist, die in früheren Zeiten nicht so fest miteinander verbunden waren, daß diese Verbundenheit<br />
den Ausbrüchen der gegenseitigen Feindschaft hätte standhalten können.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013