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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 136<br />

sieht, bei ganzen Ständen und bei ganzen Völkern lediglich Resultat der Gewohnheit sind.<br />

Menschen, die von ihren älteren Verwandten und Bekannten ständig dazu angehalten werden,<br />

sich würdig zu betragen, nehmen fast alle von früher Jugend auf die Gewohnheit an, sich<br />

ruhig und gemessen zu bewegen und zu reden; in den Ständen dagegen, wo man es für angemessen<br />

hält, sich schnell und heftig zu bewegen und zu reden, gewöhnt sich fast alles von<br />

Jugend auf an heftige und schnelle Gestikulationen und schnellen, eindringlichen Redefall.<br />

Bei Völkern, wo die Gesellschaft in scharf gesonderte Klassen zerfällt, erweisen sich diese<br />

scheinbaren Temperamentmerkmale in Wirklichkeit nur als Standesgewohnheiten.<br />

Die geistigen und moralischen Eigenschaften, die nicht so eng an den physischen Typus gebunden<br />

sind wie das Temperament, sind im menschlichen Individuum weniger stabil als das<br />

Temperament. Hieraus ergibt sich klar, daß sie weniger leicht durch Vererbung übertragen<br />

werden als das Temperament.<br />

Der Begriff des Volkscharakters ist sehr kompliziert und vielschichtig; er enthält alle jene<br />

Unterschiede eines Volkes vom anderen, die nicht zum Begriff des physischen Typus gehören.<br />

Betrachtet man diese Sammlung zahlreicher Vorstellungen näher, so kann man sie in<br />

mehrere Kategorien teilen, die sich hinsichtlich des Grades der Stabilität stark unterscheiden.<br />

Zu der einen Kategorie gehören die geistigen [317] und moralischen Eigenschaften, die sich<br />

direkt aus der Verschiedenheit des physischen Typus ergeben; einer anderen Kategorie gehören<br />

die Sprachunterschiede an; besondere Kategorien bilden weiterhin die Unterschiede der<br />

Lebensweise, der Sitten und Gebräuche, des Bildungsgrads und in den theoretischen Auffassungen.<br />

Am stabilsten sind die Unterschiede, die direkt durch Verschiedenheiten des physischen<br />

Typus bedingt sind und Temperamente genannt werden. Wenn wir jedoch von der europäischen<br />

Gruppe der arischen Familie reden, so läßt sich in ihr kein einziges großes Volk<br />

finden, das aus Menschen des gleichen Temperaments besteht. Dabei werden, obwohl der<br />

physische Typus des Einzelmenschen fürs ganze Leben unverändert bleibt und gewöhnlich<br />

von den Eltern auf die Kinder vererbt wird, und deshalb eine sehr konstante Erblichkeit besitzt,<br />

die geistigen und moralischen Eigenschaften, die aus diesem Typus hervorgehen, dennoch<br />

durch die Lebensumstände in solchem Grade verändert, daß ihre Abhängigkeit vom<br />

Typus nur dann in Kraft bleibt, wenn die Lebensumstände in der gleichen Richtung wirksam<br />

sind; wenn der Lebensablauf jedoch andere Eigenschaften zur Entwicklung bringt, unterliegt<br />

das Temperament seinem Einfluß, und die als Temperament bezeichnete Seite des wirklichen<br />

Charakters eines Menschen erweist sich als ganz verschieden von den Eigenschaften, die man<br />

nach unseren Vorstellungen von den geistigen und moralischen Resultaten des physischen<br />

Typus bei ihm hätte voraussetzen können. Jedes der großen europäischen Völker besteht, wie<br />

wir schon gesagt haben, aus Menschen von verschiedenem physischem Typus, und das proportionelle<br />

Verhältnis dieser Typen ist nicht festgestellt. Deshalb haben wir bis jetzt noch<br />

keine begründeten Vorstellungen davon, zu welchem Temperament die Mehrzahl der Menschen<br />

des einen oder anderen dieser Völker gehört. Aber vielleicht ist eine der landläufigen<br />

Meinungen richtig, wonach bei den relativ kleinen Völkern, wie zum Beispiel Holländern,<br />

Dänen oder Norwegern, dieser oder jenen physische Typus entschieden vorherrscht. Nehmen<br />

wir einmal an, daß wirklich eines der charakteristischen Kennzeichen des physischen Typus<br />

eines dieser Völker auf die überwiegende Mehrheit den Menschen [318] zutrifft, aus denen es<br />

besteht, und untersuchen wir den Charakter der Menschen dieses Volkes durch persönliche<br />

Beobachtungen oder, wenn wir uns nicht längere Zeit in diesem Lande aufhalten können, auf<br />

Grund von Erzählungen unvoreingenommenen Zeugen über das Privatleben der Menschen<br />

dieses Volkes, darüber, wie sie arbeiten, sich unterhalten und sich vergnügen; wir werden<br />

sehen, daß ein sehr bedeutender Teil der Menschen dieses Volkes nicht die geistigen und<br />

moralischen Eigenschaften besitzt, die den Vorstellungen von dem durch die Besonderheiten<br />

seines physischen Typus hervorgebrachten Temperament entsprechen. Nehmen wir zum Bei-<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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